Platon in Bagdad
EINLEITUNG
Die Ursprünge der modernen Wissenschaft liegen im antiken Griechenland, wo sie im 6. Jahrhundert v. Chr. mit den ersten Naturphilosophen ihren Anfang nahm. Die Blüte der griechischen Wissenschaft währte ein Jahrtausend lang und endete mit dem Niedergang der Antike in der frühchristlichen Zeit, als nahezu alle Städte der griechisch-römischen Welt dem Erdboden gleich gemacht wurden und das westliche Europa in die dunklen Jahrhunderte des Mittelalters sank. Und doch waren die griechischen Klassiker 1000 Jahre später Inspiration für die Renaissance und Ausgang einer Wiedergeburt der Wissenschaft. Als Kopernikus im Jahr 1543 seine Theorie eines heliozentrischen Planetensystems aufstellte, griff er auf die Arbeit eines griechischen Astronomen zurück, der fast 1800 Jahre zuvor dieselbe Theorie vertreten hatte.
Wie hat die Wissenschaft der griechischen Antike überdauert, und auf welchem Wege gelangte sie nach Westeuropa? Vor allem darum soll es in diesem Buch gehen. Die Geschichte beginnt in Kleinasien, an der ägäischen Küste bei Milet, wo unter dem Einfluss der mesopotamischen Überlieferung in der Astronomie und Mathematik die ersten griechischen Naturphilosophen, die »Physiker«, auf den Plan traten. Von dort führt der Weg in das klassische Athen, das hellenistische Alexandria, das kaiserliche Rom, das byzantinische Konstantinopel und das nestorianische Gondischapur. Weiter geht es in das abbasidische Bagdad, das fatimidische Kairo und Damaskus, das muslimische Córdoba, das Toledo der Reconquista, das normannische Palermo und schließlich in die lateinischsprachige Welt des 13. Jahrhunderts in Oxford und Paris, woder Boden bereitet wurde für die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts. Zuletzt geht die Reise noch einmal nach Osten in das mongolische Samarkand und das osmanische Konstantinopel: in die letzte Blütezeit der islamischen Wissenschaft und ihren langen Niedergang.
Dies ist das erste Buch für eine breitere Leserschaft, das die ganze Geschichte erzählt. Dass es nicht einmal ein umfassendes Fachbuch zu diesem Thema gab, musste ich als junger Physiker feststellen, als ich anfing, mich mit Wissenschaftsgeschichte zu beschäftigen. Meine ersten Forschungen auf diesem Gebiet unternahm ich 1966/7, als ich nach meiner Promotion Stipendiat in Oxford war, wo ich von Alistair Crombie betreut wurde. Er untersuchte als Erster, wie die griechische Wissenschaft in Übersetzungen vom Arabischen ins Lateinische nach Westeuropa gelangte, nachdem sie in der islamischen Welt überliefert und weiterentwickelt worden war. So wandte ich mich der islamischen Renaissance des 8. und 9. Jahrhunderts zu, als die abbasidischen Kalifen in Bagdad naturwissenschaftliche und philosophische Werke vom Griechischen ins Arabische übersetzen ließen und damit die erste Etappe einer Reise einläuteten, die schließlich zur Entstehung der europäischen Wissenschaften führen sollte. Dimitri Gutas von der Yale University, Experte auf dem Gebiet der Übermittlung der griechischen Kultur in die islamische Welt, kommentiert: »Die griechisch-arabische Übersetzungsbewegung in Bagdad war eine wahrlich epochale Phase. In ihrer Bedeutung … gleicht sie dem Athen zur Zeit des Perikles, der italienischen Renaissance oder der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts und sie verdient es, gewürdigt und in unser historisches Bewusstsein eingebettet zu werden.«
Dies ist kein akademisches Werk, sondern eine Kulturgeschichte der besonderen Art für den interessierten Laien. Der Akzent liegt durchgehend auf den Menschen, Orten und Kulturen, die in dieser Geschichte eine Rolle spielen: Es ist eine Art Reisebeschreibung des Wissens, die die verschiedenen Strömungen der Geschichte undden Aufstieg und Untergang der Kulturen zwischen Orient und Abendland verfolgt.
Angesichts des apokalyptischen Geredes vom »Kampf der Kulturen« sollte der vielfältige kulturelle Austausch, in dem die moderne Wissenschaft entstand, von besonderem Interesse sein. Der ursprüngliche Konflikt, der mit dem Aufstieg des Islam einherging, brachte die griechisch-islamische Wissenschaft in den Westen, und das war der Anfang der modernen wissenschaftlichen Tradition. Jetzt scheint es an der Zeit, diese Geschichte in ihrer ganzen kulturellen Komplexität zu erzählen. Wie verwoben die Welt war, um die es dabei geht, hat Edward Said so beschrieben: »Alle Kulturen sind … ineinander verstrickt; keine ist vereinzelt und rein,
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