Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
Seiten verloren gegangen waren, denn das Bändchen, das die Seiten zusammengehalten hatte, war gerissen. Das Tagebuch ging erst 1952 weiter.
April 1952
Helga macht mir so viel Freude. Helga steht für Glück und Gesundheit. Ich bete zu Gott, dass das Kind immer glücklich sein wird. Der Jakob war wieder da. Er ist bei den Franzosen ein gefragter Mann. Er fliegt sogar Offiziere. Mein kleiner Jakob spricht nun auch Französisch. Wir haben hier oft Franzosen der Besatzungsmacht zu Gast. Auch ein neues junges Mädchen. Sie ist schwanger von einem Franzosen und wurde von ihren Eltern enterbt und schwer geschlagen. Ihr zugeschwollenes Auge heilt nun langsam. Sie ist so alt, wie ich damals war.
»Nichts lernt diese Welt. Nichts! Der Mensch ist eine erbärmliche Kreatur. Die Geschichte wird sich so lange wiederholen, bis der Mensch bricht. Ich werde das nicht erleben, aber es ist mein inniglichster Wunsch.« So beginnt Angelikas neuer Roman, der ›Gewitter über der Nordkette‹ heißt.
Ich muss nun viel liegen. Angelikas Ärzte haben wenig Hoffnung, aber mich schmerzt es gar nicht so sehr. Ich hatte doch alles Glück des Lebens. Wir haben diese irrsinnigen Kriegsjahre überstanden, wir leben alle. Nur von den Eltern habe ich keine Kunde, aber ihr Bild ist auch verblasst. Helga lebt, sie ist so ein liebes und kluges Mädchen. Jakob lebt, und wie! Johanna, die zwei Kinder hat, lebt. Ihr Mann, der überdies ganz reizend ist und sich von Johanna auf dem Kopf herumtanzen lässt, lebt. Wir drei letzten Schwabenkinder haben überlebt. Alle Stürme haben wir ausgestanden. Erst die Lawinen und den Hunger, dann die Schmach, nun den Krieg. Angelika lebt. Einige ihrer Freunde sind im Krieg geblieben, andere in die Staaten gegangen.
Irmi traten Tränen in die Augen. Wieder schien etwas zu fehlen. Aber ein Kapitel war noch übrig. Als Irmi den Kopf hob, sah sie ein Gesicht im Spiegel. Ein weiteres Gesicht.
»Herr Bartholomä!« Irmi fuhr herum. Sein Gesicht war wie eine Maske. Der Maskenbildner hatte Zorn hineingemeißelt und Entschlossenheit.
»Sie sind zu neugierig. Sie fragen zu viel! Das habe ich Ihnen schon einmal gesagt. Legen Sie das Buch zurück.«
»Annas Tagebuch? Das Buch von Ihrer Schwiegermutter, die Sie nie kennengelernt haben?«
Er sagte nichts, und Irmi schossen so viele Gedanken in den Kopf. Wie Pfeile kamen sie, Gesichter tauchten auf. Regina, das tote Schneewittchen. Robbie. Der tolle Tommy. Wallner in dieser Villa aus Eis. Die Terrasse des Gasthofs in Hinterhornbach. Das Goldene Dachl. Arthur, ein Elch aus Fleisch und Blut. Der Elch in Öl. Helga, Elli, ein kleines Grab in Weißenbach.
»Sprachlos, Frau Mangold? Ihr Frauen redet doch sonst eigentlich immer zu viel.«
Irmis Sprachhemmung hatte auch damit zu tun, dass Veit Bartholomä die ganze Zeit ein Gewehr auf sie gerichtet hielt. Wie oft hatte sie sich über die dummen Fernsehkommissare lustig gemacht, die allein in die Falle rennen. Doch wie viel dümmer war sie!
»Waffe! Autoschlüssel!«
»Herr Bartholomä, ich habe keine Waffe dabei. Was soll das denn? Was versprechen Sie sich davon, mich hier zu bedrohen? Reden Sie mit mir.«
»Reden! Ich rede nicht! Weiber reden. Männer handeln.«
Der Lauf der Waffe kam gefährlich nahe und begann in ihren Taschen zu wühlen. Er hob ihre Jacke an, er rüsselte an ihrem Körper entlang. Noch nie hatte sich Irmi so nackt und schutzlos gefühlt.
»Autoschlüssel! Werfen!«
Irmi warf Bartholomä den Schlüssel zu, der ihn mit der anderen Hand auffing.
»Herr Bartholomä, das bringt doch nichts, wenn Sie hier mit dem Gewehr herumfuchteln. Legen Sie das Gewehr weg! Was ist denn passiert?« Irmi Kopf war nahe dran zu explodieren. Hatte Bartholomä Regina erschossen? Die eigene Ziehtochter? Warum? Wo war Helga? Wo war Robbie? Sollte sie schreien? Nein, das war sicher kein guter Rat. Er zielte mit einem geladenen Gewehr auf sie, er würde schießen.
Bartholomä wedelte mit dem Lauf und forderte Irmi auf loszugehen. Sie stolperte vor ihm her, hinaus auf die Rückseite des Hauses, vorbei an der Voliere von Theo. Sie sah kurz in die rätselhaften Augen des Tieres, doch da stieß ihr Bartholomä schon den Lauf zwischen die Rippen. Sie taumelte in einen Stadl hinein und eine schier endlose Treppe hinunter. Es wurde dunkel und kalt. Eine Tür fiel hinter ihr zu.
Es dauerte eine Weile, bis Irmis Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es war wirklich zappenduster. Sie spürte eine Panikattacke heranfluten und
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