Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
sie. Wie hatte sie so blind sein können? Der Dialekt war ihr aufgefallen. Dieser Dialekt, der irgendwie allgäuerisch klang, aber auch leicht tirolerisch, wie man es in Innsbruck sprach. Warum hatten da nicht gestern Abend schon die Alarmglocken geläutet? Aber was nutzte ihr dieses Wissen nun?
Sie ließ die Hälfte stehen und beteuerte noch, dass es nicht an der Qualität des Salats gelegen habe.
Dann fuhr sie durchs Lechtal und wieder durch Reutte. Alle schienen beim Shopping zu sein. Kurz vor Lähn überlegte sie noch, ob sie bei Kathi vorbeifahren sollte. Stattdessen rief sie an und hinterließ ihr eine Nachricht auf der Mailbox: »Kathi, rufst du mich bitte an? Ich bin da auf was Interessantes gestoßen.«
Sie zögerte kurz und wählte dann seine Nummer. Auch er hatte die Mailbox an. Wahrscheinlich verbrachte er den Tag mit dem Doppeldottore. Geschäftsabschlüsse in Italien hatten häufig mit viel mangiare und parlare zu tun. Und wenn das eine Doppeldottoressa war? Du wirst jetzt auf deine alten Tage nicht auch noch eifersüchtig, sagt sie sich und lächelte in sich hinein, während sie auch ihm eine Botschaft hinterließ: »Hallo, ich hoffe, dein italienisches Programm ist bene. Ich hab das Tagebuch fast fertig gelesen. Und ich glaub, ich weiß, wer diese Anna aus Hinterhornbach war. Meld dich mal.«
Irmi bog zum Gut hin ab, die Straße schien jedes Mal schlechter zu werden. Der Winter hatte die Schlaglöcher geschaffen, die Regentage und die Schneeschmelze hatten sie noch tiefer ausgewaschen. Es war halb vier, und es roch ein klein wenig nach Frühling. Irmi parkte vor dem Seminarhaus und rief laut »Hallo«. Wahrscheinlich war Veit Bartholomä irgendwo bei den Tiergehegen. Robbie war auch nirgends zu sehen, aber der war ja immer in der Lage, wie aus dem Nichts aufzutauchen. Ein bisschen wie ihr Bruder Bernhard. Robbie mit dem Klapp, Robbie das Genie. Vielleicht beobachtete er sie sogar von irgendwo und hatte seine Freude an diesem Spiel.
Irmi lenkte ihre Schritte zum Haupthaus. Es gab keine Glocke, auch keinen Türklopfer. Sie drückte die Klinke hinunter und fand sich in der Halle wieder. Der riesige Elch in Öl starrte sie an, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er heute besonders grimmig aussah. Irmi rief wieder »Hallo«, bekam aber keine Antwort.
Sie ging in die Küche. Jemand hatte Kartoffeln geschält, auf dem Herd stand auch schon ein Topf mit Wasser. Helga Bartholomä musste irgendwo in der Nähe sein. »Hallo, Frau Barthomomä!« Wieder keine Antwort.
Irmi trat etwas unschlüssig von einem Fuß auf den anderen und beschloss, draußen weiterzusuchen. Die Küche hatte eine Art Lieferanteneingang, einen Dienstbotenzugang nach hinten, eine kleine Tür, die durch einen schmalen Raum mit einem Alibertschrank führte. Noch so ein Trum wie schon in der Speis der Seminarhausküche. Die von Brauns waren definitiv die Retter des Aliberts.
Unwillkürlich blickte Irmi in den Spiegel des kleinen Schranks. Es war seltsam, aber Spiegel zwangen sie zum Hineinsehen. Spiegel waren Gaukler, denn auch sie konnten die Realität verzerren. Es gab freundliche, die eine schlankere Silhouette zauberten. Solche liebte Irmi. Es gab auch die gnadenlosen, bevorzugt in den Umkleidekabinen der Kaufhäuser und Geschäfte. Irmi fragte sich immer, warum diese Läden nicht stattdessen Schlankspiegel installierten. Den Umsatz hätte das garantiert angekurbelt.
Der Alibertspiegel war auch nicht gerade freundlich zu ihr. Ihr Mondgesicht kam hier besonders gut zur Geltung. Noch während sie sich über die Unbarmherzigkeit des Spiegels ärgerte, sah sie plötzlich, wie aus dem rechten Flügel des Schränkchens die Ecke eines Fotos herausspitzte. Es war ein Foto mit gezacktem Rand, und Irmi konnte nicht widerstehen und öffnete die Tür.
Das Bild segelte zu Boden, es war ein altes, vergilbtes Foto. Vor dem Gemälde des Elchs auf dem Eisbärfell standen drei Jugendliche. Sie sahen aus, als stünde ihnen eine Erschießung bevor, so erschreckt blickten sie. Den Elch kannte Irmi, die drei jungen Leute nicht, aber sie ahnte schon, wer das war: Anna, Jakob und Johanna aus Hinterhornbach. Das Bild hing in einem Salon, nicht hier in der Halle.
Im Alibert lag ein zerfleddertes Buch. Es musste Annas Tagebuch sein, und zwar das Original. Fast ehrfürchtig blätterte Irmi um. Im Original war die Schrift viel gestochener als auf den Scans – sie konnte die Einträge sogar auf Altdeutsch lesen. Es war offensichtlich, dass einige
Weitere Kostenlose Bücher