Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
tun, warum traf sie das Geschreibsel eines unbekannten Mädchens so ins Mark? Vielleicht, weil es ihr in geschriebener Form aus einem Tagebuch entgegentrat? Nicht umsonst war das Tagebuch der Anne Frank eines der berühmtesten Bücher der Welt geworden.
Irmi träumte von Lawinen und von Kindern in Lumpen und von einem riesigen Kamin. Am nächsten Morgen erwachte sie wie gerädert. Sie hielt die Augen geschlossen, um sich zu erinnern, was sie eigentlich geträumt hatte. Da war auch ein Bild von einem Elch gewesen, ein Ölbild. Da waren dunkle Wälder gewesen. Und auch jetzt, in diesen wenigen Minuten zwischen Schlaf und endgültigem Erwachen, vermengte sich alles zu einem undurchdringlichen Gespinst.
Bernhard, das Phantom, war schon wieder weg. Wenn sie nicht ganz sicher gewusst hätte, dass sie einen Bruder besaß, hätte sie manchmal an seiner Existenz gezweifelt. Sie kannte keinen Menschen außer ihm, der das so gut beherrschte: Gerade noch da, dann spurlos verschwunden. Kaffee gab es auch keinen. Irmi kochte sich einen, beschloss zum millionsten Mal, endlich einen schicken Vollautomaten zu kaufen, und wusste doch, dass sie das nicht tun würde. Der Keramikfilter auf der alten Kanne tat es auch!
Zwei Tassen später war die Zwischenwelt verflogen, wie Nebel hatte sie sich verflüchtigt. Die Realität stand klar vor ihr: Am Montag würden sie die Befragung mit Tommy weiterführen, und insgeheim wünschte sie sich, er würde gestehen. Für sie alle.
Sollte sie das Tagebuch zu Ende lesen? Irgendetwas hielt sie zurück, irgendetwas trieb sie hinaus aus ihrer Küche. Wer warst du, Anna aus Hinterhornbach?, dachte Irmi und lenkte ihr Auto hinaus nach Garmisch und Grainau, vorbei an Lähn, hinunter nach Reutte. In Weißenbach hielt sie an. Betrat den Friedhof. Gleich das erste Grab links zierte ein weißer Jüngling mit Schleife. Das erste Grab rechts war unauffällig, und weiter hinten an der linken Mauer entdeckte sie ein Grab, das völlig überwuchert war. Lag hier irgendwo Kathis tot geborene Schwester? Hier hieß man Wechselberger, Falger oder Knittl – es war so wenig, was von einem Leben übrig blieb. Von einem ungeborenen fast nichts. Wie bei der Tierkörperverwertung hatte der Kindsvater es entsorgen wollen. Ellis Worte hallten nach.
Der Lech führte momentan viel Wasser, die Zeit der Schneeschmelze machte einen gefährlichen Fluss aus ihm. Im Sommer offenbarte er endlose Kiesbänke, einer Steinwüste glich, durchzogen von einem lächerlichen Rinnsal. In Stanzach dann: Hosp Schuhe, Sport Fredy, das alles hatte es zu Zeiten der Anna sicher nicht gegeben. In Vorderhornbach stoppte Irmi erneut und las die Inschrift an einem Haus:
Dies Haus ist mein und ist nicht mein
Es wird auch nicht des zwyten seyn
Und sollt es auch der dritte sehen
So wird es ihm wie mir ergehen
Der vierte muss auch ziehen aus
Nun sag mir wessen ist dies Haus?
Fortgetrieben hatte das Lechtal seine Kinder! In diesem kleinen Vers lagen so viele tragische Leben. Irmi fuhr weiter, die Straße stieg an. Was für ein sagenhaft schönes Tal, was für ein schmucker Ort mit einer großen Kirche! In welchem Haus hast du gelebt, Anna?
Irmi hielt am Gasthof Adler an. Die Sonne setzte dem Schnee zu, die meisten Flanken in Ortshöhe waren schneefrei. Sie stieg eine Weile bergan Richtung Joch. Setzte sich bei ein paar Almhütten in die Sonne. Drüben auf der andern Talseite entdeckte sie ein paar Tourengeher. Hier hießen die Häuschen nicht Almhütten, sondern Alpen.
Sie war nicht weit gegangen, nicht hoch hinausgekommen, aber oft reichten schon hundert Höhenmeter für einen neuen Blickwinkel.
Irmi ging talwärts, bestellte im Gasthof in der urigen Stube einen Bauernwurstsalat und ein Bier. Während sie wartete, las sie auf einem Zettel die Kleine Chronik von Hinterhornbach . 1891 Erhebung zur eignen Pfarrei. 1912–1914 Bau der Straße von Vorderhornbach nach Hinterhornbach. 1913 erste Fahrräder im Dorf, Anna hatte sicher keins gehabt. 1924 erstes Auto von Graf Beroldinger. 1932 Beginn des Schulhausbaus, lange hatte Anna da also nicht die Schulbank gedrückt. Sie war zwölf gewesen, als die Schule gebaut wurde. 1949 Einführung des elektrischen Lichts. 1959 erstes Telefon beim Adlerwirt. 1959 – das stelle man sich vor! Zehn Jahre später war man zum Mond geflogen!
Irmi aß den überaus köstlichen und üppigen Wurstsalat und blickte nebenbei in die Blätter. Kaute und las weiter. Ihr Magen rebellierte auf einmal. Eine Erregung überflutet
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