Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
Heißa! Der Frühling war da.
Kathi hasste das Frühjahr. Und sie hasste den Morgen. Um diese Tageszeit hatte sie gar keinen Nerv für ihre putzmuntere Tochter. Ebenso wenig wie für ihre Mutter, die immer gegen halb sechs aufstand und ihr jeden Morgen etwas zum Essen aufdrängte. Frühstück wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König, Abendbrot wie ein Bettler – diesen Spruch hatte sie schon in Soferls Alter gehasst. Bis heute hasste sie Frühstücken. Ein schwarzer Kaffee war doch völlig ausreichend. Warum ließen diese beiden lästigen Stehaufmännchen sie nicht einfach in Ruhe morgenmuffeln?
1
März 1936
Es geht auf Josephi. Leider. Es hat tagelang geschneit, heut hat es aufgerissen. Irgendwo singt schon ein Vogel. Er singt hinein in diese Welt aus Weiß, die uns blendet. Ich zwinkere schon den ganzen Tag gegen die Sonne. Ach, würde sie doch nur wieder verschwinden. Aber ich werde es nicht mehr lange hinauszögern können. Der Herr Vater ist im Lechtal unten gewesen, er hat telefonieren lassen. Mir ist das unheimlich. Man spricht in ein Rohr, und so viele Tagreisen entfernt hören die etwas? Ganz so, als stünde einer neben einem? Der Herr Pfarrer hat auch gesagt, das ist Teufelswerk.
Aber der Herr Vater hat kein Einsehen. Er hat gesagt, dass ich gehen muss, auch wenn ich schon sechzehn bin. Solange dich keiner heiratet, musst du gehen. Er hat gesagt, ich sei selber schuld, dass ich noch keinen Burschen hätt. Wo soll ich denn einen Burschen hernehmen? Wir kommen den ganzen Winter doch nicht raus.
Die Flausen hierzubleiben, die wolle er mir schon austreiben, hat der Herr Vater gesagt. Und dass ich a gschnablige Fechl bin. Das ist nicht schön von ihm. Und das ist auch gar nicht wahr. Aber ich bin ein Mädchen, und der Herr Vater mag keine Mädchen. Die Zwillingsbrüder sind vor sechs Jahren am Joch gestorben, die Lawine hat sie beide mitgerissen.
Nur gut, dass die Johanna mit von der Partie ist und der Jakob. Mir wird jedes Jahr banger. Das erste Jahr war es am leichtesten, obwohl ich mir zwei Zehen erfroren habe. Aber das geschieht allen. Wir sind neun gewesen und eine Frau, die uns führen sollte. Von Elbigenalp waren sie auch heraufgestiegen, weswegen wir vier Hinterhornbacher immer am Hornbach entlang bis zur Hermann-von-Barth-Hütte hatten gehen müssen. Dort trafen wir uns, es gab eine Marend, sogar Muggafugg. Wir aßen und tranken, denn um den Krottenkopf herum und auf zum Mädelejoch, das war keine feine Strecke. Vereist war es gewesen, das Mädelejoch hatte kaum Schnee, der Wind hatte ihn verblasen. Aber dann kamen die Kitzabolla. Und kalt war es gewesen. So kalt.
Aber ich wusste damals noch nicht, was geschehen würde. Die Großen waren schon oft außi zu den Fritzle, der Konrad war sogar auf dem Kindermarkt in Ravensburg gewesen. Was er berichtet hat, war nicht schön. Später hatte auch der Konrad feste Herrschaften, und nun ist er längst als Stuckateur dussa. Ab dem dritten Jahr wurden wir in Kempten immer schon erwartet, sogar mit einem Fuhrwerk abgeholt. »Was für ein Glück«, hat die Mama immer gesagt. »Was ihr für ein Glück habt.« Und dann hat sie mich jedes Jahr so komisch angesehen, und bekreuzigt hat sie sich. Jedes Jahr mehr. Ich hatte ja Glück, zwei erfrorene Zehen sind nichts. Dem Oswald fehlen sogar drei Finger. Ganz schwarz sind die gewesen.
Mir wird es dennoch jedes Jahr schwerer ums Herz. Wir sind die Letzten. Aus Elbigenalp kommen sie nicht mehr, zwei der Mädchen, die Hermine und die Maria, sind tot. Warum, weiß ich nicht genau. Seit wir die Letzten sind, gehen wir den kürzeren Weg übers Hornbachjoch. Ich fürchte mich immer unter den Höllhörnern. Der Herr Pfarrer hat gesagt, der Teufel hause in den Zacken. Und dass wir beten müssten am Joch und uns bekreuzigen und einen Rosenkranz sprechen. Der Herr Pfarrer ist ein Knatterle, hat die Johanna gesagt, so was darf man aber doch nicht über einen Kirchenmann sagen. Wenn der Herr Pfarrer wüsste, dass wir uns immer nur ganz kurz bekreuzigt und nie einen Rosenkranz gebetet haben … Aber der Herr Pfarrer weiß ja nicht, wie eisig kalt es ist im Sturm droben am Joch.
Die Johanna hat gesagt, dass sie dieses Jahr nicht mehr heimkommen will, so wie die Gertrud. Diese Johanna. Solche Pläne hat die Johanna! Sie ist ein Wildfang, die Johanna! Ich habe viel lesen können im Winter. Der junge Herr Kaplan hat mir Bücher zugesteckt und Lesen mit mir geübt. Wir sind ja immer nur im Winter in der Schule, und oft fiel der
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