P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
kann ganz gut zu Mozart zurückkehren und trotzdem über Prostituierte, Kriminelle und Drogensüchtige schreiben. Die Sitten zu Mozarts Zeiten waren auch nicht besser als heute. Hätte ich damals etwas zu sagen gehabt, so wäre ich wahrscheinlich sogar mit Staiger einig gewesen. Warum soll Literatur sich immer nur mit Spezialfällen wie Verdingkindern, Alkoholikern, Mördern, Rebellen und andern Randfiguren befassen? Einfach weil es interessant ist? Ist doch reiner Voyeurismus! Die Opfer der Gesellschaft brauchen die Verteidigung durch die Literaten sowieso nicht. Sollen sie doch der SP beitreten und etwas für eine bessere Altersversicherung tun. Auch ganz normale Leute haben große Probleme. Außerdem: warum müssen sich Romane
überhaupt
mit Problemen befassen? Man kann ja einfachmal was schreiben. Klar liest das dann niemand – aber das ist halt das Los der verkannten Künstler. Manetti schreibt ja auch nicht über spezifische Themen, man könnte keine Manetti-Partei gründen, trotzdem liest man ihn gern, ja, er macht richtig süchtig.
Inzwischen war Thomas bei Manettis Philosophiestudium angelangt, das dieser parallel zu Geschäftsaktivitäten in Brasilien, Ostafrika und Costa Rica betrieb. Er entdeckte neue Kaffeelieferanten, während er sich einerseits durch die Philosophiegeschichte, andererseits durch Kurse in Phänomenologie und Logik arbeitete.
»Da ist Leupi, samt Velo«, bemerkte Thomas, »der grüne Fraktionschef. Ich wette, er ist nächstes Jahr Stadtrat. Sicher geht er zu einer Besprechung mit Corine.«
»Was kann man mit Corine Mauch besprechen?«, fragte ich, während er wieder eine Zigarette erwedelte, »bisher hat sie noch gar nichts gesagt. Noch weniger als Elmar Ledergerber, der wenigstens die Ökoterroristen erfand.«
»Sein politischer Selbstmord.«
Ich träumte kurz, dass Corine aus aktuellem Anlass von Finanz- und Immobilienterroristen reden könnte. Vielleicht war sie schon nahe daran, die Worte wollten nur nicht über ihre Lippen kommen.
»Sie wird nie etwas sagen«, seufzte ich, »das hat sie aus seinem Schicksal gelernt. Sie wird einfach da sein und aufgeschlossen lächeln.«
Thomas paffte und nickte. »Aber was willst du denn? Dass sie die Bevölkerung zur Revolution aufstachelt? Die Polizei zur Unterstützung von Hausbesetzern gegen die Immobilienspekulanten losschickt?«
»Klingt gut.«
»Du hast ja keine Ahnung.«
»Okay. Manetti reiste also herum und studierte Logik.«
»Vor allem Brasilien war für Manetti eminent wichtig«, fuhr Thomas fort, »manchmal war er monatelang dort, nach dem Lizentiat war er zwei ganze Jahre dort verschwunden. Auf jeden Fall florierte die Firma Manetti, ihr Kaffee ist überall. Ihre Kaffeemaschinen sind Kult.«
Hugo Loetscher war durch mit der
NZZ
. Er stand umständlich auf, nickte uns im Vorbeigehen freundlich zu – wahrscheinlich kannte er Thomas vom Sehen. Oder er hatte den Begriff »westliche Zivilisation« aufgeschnappt. Wir beobachteten, wie er die Straße überquerte und sich in Richtung seiner Wohnung bewegte. Wahrscheinlich würde er dort auf seinem berühmten Computer an seinen Memoiren schreiben. In einem gewissen Sinn waren Manettis Notizbücher Live-Memoiren, Direktreportagen aus dem Leben eines Zeitgenossen. Aber nicht nur das, wie ich herausfinden sollte. Lebt man nur, um sich wenigstens an etwas erinnern zu können, um einen Stoff zu haben? Das deutsche Wort »erinnern« ist ja erstaunlich: Die Welt ist draußen, dann wird sie erinnert und dann ist sie innen. Quasi eine Definition des Lebensprozesses: Man wird in die Welt gesetzt und dann nimmt man sie herein. Verdaut sie. Und dann endet es. Man scheißt es heraus. Was immer »es« war. Der Zyklus ist beendet.
»Wir überlegen uns eine Übersetzung ins Englische«, war Thomas fortgefahren, »aber das wird schwierig.«
»Kann man Erinnerungen übersetzen?«
»Man kann alles übersetzen. Manetti reiste nicht nur nach Brasilien, sondern auch nach Paris, wo er Meienberg traf, nach London und New York.«
»Da wird aber kein Kaffee angebaut«, warf ich ein.
»Aber getrunken. Darum ging es jedoch nicht. Wer die Weltstädte nicht kennt, kennt die gängigen Moden nicht. Manetti wollte die Welt kennen, ein bisschen wie dieser Hekataios. Das ist nicht verwunderlich. Die Verbindung zwischen Philosophie und Geschäft ist offensichtlich. Die griechische Philosophie begann in den ionischen Handelsstädten – zum Beispiel in Milet. Das griechische Alphabet, das nichtmythische Denken
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