P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
zugewandert aus dem Luzernischen. Sie sieht gesund, frisch, athletisch aus. Ihr Haar ist streng zurückgekämmt, dunkelblond, mit einem Stich ins Kupferne, ihre Augen sind grün-blau, der Mund etwas zu groß, die Nase etwas zu breit, das Kinn eher spitzig. Der Teint leicht gerötet. Sie trägt einen beigen Pullover. Ihr Blick wirkt leicht verdutzt, als ob gerade etwas Unerwartetes geschehen wäre. (Vielleicht war die Fotografin eine besonders schwierige Patientin von ihr.)
Das Foto nimmt eine ganze Seite ein. Viele Fragen stellen sich: Was macht eine relativ gut aussehende Frau von 43 allein in einer Dreizimmerwohnung? Hat sie einen Freund, eine Freundin? War sie verheiratet? Hat sie Kinder?
Links vom Bild und auf den folgenden Seiten ist das Gespräch abgedruckt.
Nora Nauer: Frau Limacher, wie sind Sie zu Roberto Manettis Buch gekommen?
L.: Ein Patient hat es erwähnt. Er wurde mit Rückenproblemen in meine Praxis überwiesen und hatte Manetti gelesen. Während ich an seinem Rücken arbeitete, erzählte er von Manettis Notizbüchern. Ich spürte zuerst zunehmende Verhärtungen,dann eine starke Entspannung. Nach fünf Sitzungen war sein Rücken wieder in Ordnung. Nur ich selbst war innerlich gespannt, wegen der Dinge, die er über Manetti gesagt hatte. Manettis Aufzeichnungen setzen im Jahr 1975 ein, da war ich erst 7 Jahre alt. Ich wusste nicht, dass es damals in Zürich Wohngemeinschaften gab, eine intensive Debatte über Gewalt in der Politik, Drogen, Demonstrationen … Mein Vater hatte ein Elektrogeschäft in Emmen. Man redete über nichts. Als ich dann nach Zürich kam, war die Achtziger-Bewegung auch schon wieder vorbei. Erst in den neunziger Jahren holte ich zu Manetti auf. Ich muss ihn damals oft gesehen haben, in der Helvetia-Bar, in illegalen Bars …
N.: Wo haben Sie denn Manettis Notizbücher gekauft?
L.: Bei
Buch und Wein
, dem Laden von Rosmarie Gwerder, drüben im Kreis 4. Viele haben ihn dort gekauft, oder auch im Paranoia-City-Laden. Irgendwie war es wichtig, die Buchhändlerin schon gekannt zu haben, bevor sie einem den Manetti überreichte.
N.: Warum denken Sie, war es wichtig, die Buchhändlerin zu kennen, bei der man Manetti kaufte?
L.: Haben Sie Manetti gelesen?
N.: Nein, noch nicht.
L.: Dann werden Sie Mühe haben, das zu verstehen.
N.: Wie wurde Ihnen Manetti denn überreicht?
L.: Oh, Rosmarie machte das ganz liebevoll und sorgfältig. Wie es sich gehört. Der Manetti stand ja nie im Schaufenster. Ich wusste von meinem Rückenpatienten, wo ich ihn bekommen konnte. Zuerst tranken wir an einem Tischchen ein Glas Wein, und Rosmarie zündete eine Kerze an. Es war an einem dieser dunklen, feuchten, hoffnungslosen Novembernachmittage, ein Donnerstag. Ich hatte gerade fünf Patienten hinter mir – ich erinnere mich noch an eine ziemlich schwierige Schulterpatientin mit Schmerzen Stufe 7. 10 ist die höchste Stufe – sie gilt bei Geburten. Sie müssen nicht meinen, die Schmerzen meiner Patienten lassen mich kalt. Ich fühle mit, aber ich habe auch gelernt, mich zu distanzieren. Wir plauderten über dies und das. Rosmarie wardabei, ihren Laden aufzugeben. Sie suchte eine neue Herausforderung. Ich suchte keine neue Herausforderung. Ich bin ganz zufrieden damit, Physiotherapeutin zu sein. Die Wirtschaftskrise war damals ein großes Thema, die Buchhändler spürten sie stark, ich aber gar nicht, im Gegenteil. Muskelschmerzen sind ja nicht nur physisch verursacht, das ist auch psychosomatisch. Bei Gefahr und Angst verspannt man sich. Als die Börsenkurse runtergingen, nahmen die Nackenprobleme zu. Man merkte: Jetzt muss etwas Neues kommen. Aber darüber redeten wir nicht. Eher über Frauensachen.
N.: Und dann verkaufte sie Ihnen den Schuber?
L.: Nicht sofort. Sie machte noch einen Kaffee, und wir probierten ihren Grappa. Es war sehr angenehm, richtig gemütlich, keine weiteren Kunden. Wir redeten über die Zukunft: Wie würde es in zehn Jahren sein? Würden wir arm sein, würde es Unruhen geben? Es kursierte ja damals die lustige Geschichte, dass die Reichen vom Zürichberg kleine Eigentumswohnungen im Kreis 4 und 5 kauften, um die Unruhen besser zu überleben. Aber das war sicher nur eine Legende. In Zürich gibt es keine Unruhen – höchstens etwas Unruhe. Manetti erklärt ziemlich genau, warum das so ist. Andererseits ist er schon vor zehn Jahren gestorben …
N.: Aber schließlich bekamen Sie die Notizbücher?
L.: Ja, schon, aber das hatte eine Vorgeschichte. Ich war schon zwei
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