P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Wochen vorher in Rosmaries Laden gewesen, um den Manetti zu kaufen. Sie hatte noch fünf am Lager, aber alle waren schon bestellt oder versprochen. Sie versicherte mir, dass sie tun würde, was sie konnte. Ein paar Tage später rief sie mich an und teilte mir mit, dass sie noch ein Exemplar habe finden können. Erst dann ging ich in ihren Laden, an jenem Novemberdonnerstag.
N.: Hat die Buchhändlerin etwas gesagt, als sie Ihnen die Notizbücher übergab?
L.: Ja, Rosmarie hatte Manetti schon vorher gelesen. Nicht alle, die Manetti verkaufen, haben ihn ja auch gelesen. Ich vermute, viele, die über ihn reden, haben ihn gar nicht gelesen. Sie hatte ihn im Sommer im Piemont gelesen, in einemHaus einer Freundin. Ihr Grappa kam ja auch aus dem Piemont. Sie nahm meine Hand und sagte: Lies Manetti, aber lies ihn auf deine Art. Ich kann dir nicht sagen, was geschehen wird. Dazu muss man ihn eben selber lesen. Lies ihn nicht zu schnell – nicht mehr als siebzig Seiten pro Tag. Dann sagte sie noch ein paar Dinge, die ich nicht wiederholen will. Sie gab mir Ratschläge, wie man Manetti lesen soll. Sie packte ihn in mattes schwarzes Papier ein und band ihn mit einer silbernen Schlaufe zusammen. Das Paket sah ein bisschen aus wie ein … eine Art Sarg? Ein feierliches Objekt. Ich sollte es erst aufmachen, wenn ich am Ort der Lektüre angekommen sei. Sie überreichte mir das Paket mit beiden Händen und blickte mir in die Augen. ›Das ist dein Manetti‹, sagte sie. Endlich hielt ich den Manetti in meinen Händen. Als ich Manetti hielt, spürte ich, dass etwas Entscheidendes geschehen würde, dass ich an einer tiefgreifenden Wende in meinem Leben angelangt war.
N.: Und dann gingen Sie nach Hause?
L.: Zuerst bezahlte ich noch, 550 Franken, in bar, fünf Hunderternoten und eine Fünfzigernote. Den Manetti bezahlt man ja immer in bar, und immer mit sechs Banknoten. Ich übergab ihr das Geld in einem verschlossenen Kuvert, so wie es sich gehört.
N.: Das heißt, dass die Buchhändlerin das Geld nicht nachzählte?
L.: Das war nicht nötig, wir kannten uns ja. Ich kaufte noch eine Flasche piemontesischen Grappa, den, den wir getrunken hatten. Ich kaufte nebenan im Welschlandladen ein Stück Gruyère, hatte aber kaum Hunger. Das Paket stellte ich auf dieses Tischchen hier, ohne es aufzumachen, selbstverständlich.
N.: Sie öffneten es erst hinten im Verzascatal …
Margrit Limacher hatte ihre Lektüre gut organisiert. Sie hatte berechnet, wie viel Polenta, Reis, Teigwaren sie für einen Monat brauchen würde, wie viel Butter, UHT-Milch, Frühstücksflocken, Wein, Gemüse, Kaffee, Trockenfrüchte, Käse usw. Auch den Grappa nahm sie mit, für alle Fälle. Die Menge, die dabei herauskam, lag unterhalb der internationalenLogistikfaustregel. Margrit Limacher legte auch den normalen Tagesablauf fest. Als fitnessbewusste Frau setzte sie zwei Stunden Bewegung ein: ein schnelles Walking am Morgen, Übungen am späten Nachmittag. Als sie eingeschneit wurde, musste sie sich den Walking-Parcours (zweihundert Meter hinauf und hinab) frei stampfen. Sie verordnete sich eine Stunde Sonne pro Tag (sie schien dort maximal vier Stunden, wenn überhaupt), um dem Vitamin-D-Mangel vorzubeugen. Zur Sicherheit hatte sie einige Röhrchen Multivitamintabletten dabei. Es galt, sich bei Freundinnen und Freunden abzumelden, Patienten umzubuchen und an Kolleginnen zu überweisen, Rechnungen zu bezahlen, Zeitungen abzubestellen, die Post zurückbehalten zu lassen. Nur die Freundin, von der sie das Rustico gemietet hatte, wusste, dass sie dort war. Aber sie gab ihre Nummer auch der Leiterin der Coop-Filiale in Sonogno, die wiederum ihre Freundin gut kannte. Sie würde jeden Tag einmal kurz anrufen, damit niemand sich Sorgen machte.
Margrit Limacher zündete zuerst Feuer im Kamin an, dann verstaute sie Lebensmittel, Kleider, Toilettenartikel. Sie platzierte das schwarze Paket mit dem silbernen Band auf einem Beistelltischchen neben dem Sofa. Von dort aus sah es zu, wie sie sich eine Gemüsesuppe machte, sich ein Glas Rotwein einschenkte, in der Pfanne rührte, aus dem Fenster ins Tal hinausschaute. Sie summte vor sich hin, murmelte: Olivenöl ist immer gut. Es war später Nachmittag, die Sonne beschien noch die Felswände im Osten.
Margrit Limacher verschwand im Schlafzimmer und machte das Bett zurecht – es war eiskalt. Sie trug einen dicken Wollpullover. Sie legte Holz auf die Glut.
Eine Stunde später aß sie ihre Suppe mit einem Stück Brot und einem
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