P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
– alles Produkte der Polis, des Geschäfts, des Rechnens, des Reisens; Handel, Austausch, Planen und Riskieren, abstraktes Denken – all das gehört zusammen. Manetti war ein Handelsreisender, er machte Geld, viel Geld.«
»Er profitierte von seinem Wissensvorsprung.«
»Genau. Wie Voltaire. Der spekulierte im karibischen Zuckerhandel, machte ein Vermögen, das auf Sklavenarbeit beruhte. Er kaufte sich seine Denkzeit durch die Ausbeutung von Sklaven. Was
sie
dachten, weiß keiner – vielleicht wussten sie mehr über eine etwas andere Aufklärung als er selbst. Bei Manetti war es im Prinzip nicht anders. Fortschritt hat seinen Preis.«
Sein letzter Satz wäre nicht nötig gewesen. Fortschrittszynismus ist nun wirklich ein alter Hut. Ich fragte mich, was Manetti wohl mit Meienberg in Paris besprochen hatte. Vielleicht hatten sie peripatetisch die Place des Vosges umschritten und über die schweizerische Bourgeoisie gelästert – aus genauer Kenntnis. Vielleicht hatte er versucht, Meienberg auf eine andere Bahn zu bringen. Er hat es nicht lange geschafft.
»Er machte sehr viel Geld«, murmelte Thomas, fasziniert.
»Und seine Schwester hat es geerbt.«
»Ja. Darum brauchte sie auch die Honorare für die Bücher nicht. Sie hat übrigens eine Stiftung gegründet, die Schulen für Mädchen in islamischen Ländern finanziert.«
In den sechziger Jahren studierte Manetti also Wittgenstein, Husserl, Heidegger, Sartre, aber auch Freud, Adler, Jung, machte Geschäfte, verschwand in exotischen Ländern, tauchte wieder auf.
»1969 starb seine Mutter Dora«, berichtete Thomas, »relativ jung, im Alter von 50 Jahren. Das war ein harter Schlag für Manetti, obwohl er damals ja schon 28 Jahre alt war. Seine Mutter hatte ihm viel bedeutet, mehr als sein Vater Carlo, der ja auch viel älter war, damals schon 70.«
»Das heißt«, rechnete ich, »als Manetti 1941 geboren wurde, war seine Mutter 22 Jahre alt, sein Vater aber 42.«
»Ja, sie war seine zweite Frau. Die erste war in den dreißiger Jahren bei einem Verkehrsunfall umgekommen – in einem Bugatti. Am Comer See. Sie war allein am Steuer.«
»Dem Vater starben die Frauen weg«, bemerkte ich, während ich mir eine schicke Frau in einem offenen Bugatti vorstellte. Aber was hatte sie in Italien zu suchen?
»Manetti hielt noch ein paar Jahre durch, bis 1973, alsCarlo an einem Herzversagen verstarb. Dann verkauften er und Elsa die Firma für 255 Millionen. Und damit war ihr aktives Erwerbsleben abgeschlossen. Von nun an gab’s für Elsa nur noch die Kunst, und für Roberto – nun, da muss man eben seine Bücher lesen.«
Die Kunst! Die Kunst!
»Komischerweise habe ich von einer Elsa Manetti im Kunstbetrieb noch nie etwas gehört. Hat sie gemalt?«
Thomas lachte auf.
»Sie hat gar nichts gemacht. Sie war nur Mäzenin, Sammlerin, Organisatorin, Galeristin, Konservatorin. Sie hat immerhin Kunstgeschichte studiert. Sie war im Hintergrund tätig, hat gefördert, koordiniert, lobbyiert. Nur bei der Expo, da hat sie sich etwas engagiert und eben dafür gesorgt, dass Pippilotti künstlerische Leiterin wurde. Was ja dann in die Hose ging.«
»Wie alt ist denn Elsa?«
»Jahrgang 1955.«
»Ein Nesthäkchen. Vierzehn Jahre jünger als Roberto.«
In diesem Moment fragte ich mich ernsthaft, warum ich mich überhaupt für diesen reichen Müßiggänger interessieren sollte – Husserl hin oder her. Ich meine: Seine Sorgen konnten kaum meine Sorgen sein. Selbstverständlich ist es leicht, die Welt detachiert und detailliert zu beobachten, wenn man auf einigen Millionen sitzt. Und dazu kamen noch Häuser in Zürich, im Tessin, in Brasilien, Costa Rica, Wohnungen in Paris und New York. Der Mann hatte ausgesorgt. Genug Zeit für jede Art von Onto- und Phänomenologie. Was konnten Leute wie ich für ihn sein? Höchstens interessante Fälle. Ameisen in einem Ameisenhaufen.
»Neidisch?«, entlarvte mich Thomas grinsend.
»Klar. Nichts gegen Neid. Neid ist ein edles Gefühl, immer berechtigt. Nur die Reichen beklagen sich über den Neid der Armen. Die Armen, nicht nur arm, sollen sich auch noch schämen müssen, neidisch zu sein.«
»Du spielst wieder mal Oscar Wilde. Einfach widersprechen und schauen, was dabei herauskommt.«
»Oscar Wilde hat schließlich Recht bekommen.«
Thomas schmunzelte. »Ab 1975 begann er, in seine Notizbücher zu schreiben«, beendete er seinen Bericht, »dann starb er 1999 – wahrscheinlich an Krebs.«
»Was heißt da: wahrscheinlich?«
»Er starb,
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