P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
hineingeschaut. Klingt ganz interessant, irgendwie wie eine Mischung aus Nietzsche, Karl Kraus und Walter Benjamin. Epikur kann man noch dazunehmen. Seneca. Lichtenberg.«
»Oder Montaigne«, schlug ich vor.
Er nickte nur.
»Marx, Spencer, Enzensberger, Kluge?«, fügte ich hinzu.
»Was weiß ich«, wehrte er ab, »es ist das In-Buch, nicht nur für Linke. Für Rita war das sicher hoch spannend. Sie hat immer versucht, die Linke aus ihren diversen soziologischen und ideologischen Käfigen zu befreien. Wir stagnieren seit zwanzig Jahren, auch wenn man die Grünen dazunimmt – das ist ja nur eine interne Umlagerung. Aber ich glaube nicht, dass es politisch war. Ich glaube, jemand hat ihr etwas angetan.«
Er konnte nicht mehr weiter und weinte.
Seine Tochter legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Wir wissen es nicht«, sagte sie.
Nora insistierte: »Rita war also wie immer? Keine Geheimnistuerei? Keine unerklärbaren Telefonate, E-Mails? Hat man eigentlich ihr iPhone gefunden?«
»Nein«, antwortete Jeannine, »wir haben gar nichts gefunden. Wäre sie entführt worden, gäbe es Spuren. Sie hat alles sorgfältig vorbereitet. Sie muss irgendwohin gegangen sein, und es ist für sie wichtig, dass man ihr nicht folgen kann.«
»Aber mir kann sie doch vertrauen«, jammerte Christian. Nora dachte nach. »Sie vertraut dir sicher. Vielleicht will sie uns schützen, oder uns mit etwas überraschen. Vielleichtgeht sie selbst einer Spur nach, will sich aber nicht blamieren, wenn sie nichts findet. Ihr Verschwinden erforderte Planung und Sorgfalt. Keine elektronische Spur zu hinterlassen, ist heute eine große Kunst. Also hat sie niemand entführt, also ist sie noch am Leben. Ihr werdet sehen, plötzlich taucht sie auf wie das Christkind und präsentiert uns eine tolle Überraschung.«
»Sie hat sogar ihre Verlaufsaufzeichnungen im Internet gelöscht«, erklärte Christian.
»Könnte es etwas mit dem Interview im
Magazin
zu tun haben?«, fragte Jeannine, »haben sich komische Leute gemeldet, Nora?«
»Es haben sich sehr viele Leute gemeldet, es gab eine ganze Seite mit Leserbriefen. Ich bin gerade daran, diese Mails durchzugehen. Bis jetzt habe ich nichts Bedrohliches gefunden, höchstens Leute, die ihre politischen Ansichten nicht teilten. Es gab höhnische Kommentare der üblichen rechten Verdächtigen – Mörgeli, Köppel, Somm. Die Linke hat ihren Guru gefunden und dergleichen.«
»Hat sie das?«, fragte Christian.
»Die Linke braucht keine Gurus«, antwortete Nora, »Manetti war kein Linker. Natürlich auch kein Rechter. Schau dir nur schon seine Sprache an – da ist so viel Ironie drin, dass der Gurueffekt implodiert. Nein, diese Rechten waren verärgert, weil Manetti droht, die bisherigen Koordinatensysteme zu verschieben. Darum hat sich Rita dafür interessiert, sie wollte Denkmuster sprengen, neues Terrain erobern. Und trotzdem nicht auf Visionen und Hoffnungen abfahren. Das ist schwierig.«
»Ja, gut, aber dann verschwindet man doch nicht«, wandte Christian ein, »zudem traue ich diesem Gerede von ›Denkmuster sprengen‹ nicht. Die Rechte hat das Geld und die Macht, da kann die Linke noch so viele Denkmuster sprengen und Koordinaten verschieben. Die Hegemonie der Bourgeoisie kann man nicht einfach wegzaubern.«
»Das weiß Rita doch«, versicherte ihm seine Tochter.
»Das heißt: Ich muss diesen Manetti lesen, wenn ich verstehen will, warum mich meine Frau nach 35 Jahreneheähnlichem Zusammenleben verlässt«, stellte Christian finster fest.
Er wirkte nun schon wieder wie der Alte: klar im Kopf, kombattiv, schneidend.
»Da würde ich noch warten«, bremste ich ihn, »ich habe ihn auch noch nicht gelesen.«
»Was? Du nicht? Du hattest doch immer alles schon gelesen.«
Hörte ich da einen kleinen Vorwurf heraus?
»Ich hatte es natürlich fest vor, aber es kam immer wieder etwas dazwischen. Plötzlich interessierte ich mich mehr für das Phänomen des Erfolgs dieses seltsamen literarischen Produkts als für es selbst. Ich kam auf Abwege. Ich stellte Nachforschungen an.«
Nun kam der Moment, wo wir die Katze hätten aus dem Sack lassen können. Aber ich spürte einen Schlag gegen mein Schienbein, der nur von Nora herrühren konnte. Ich beschloss stillzuhalten.
»Wir müssen mehr über Ritas Umfeld herausfinden«, erklärte Nora, »diese Parteikollegin – Monika …«
»Fehr – noch eine. Irgendwann müssen diese Fehrs aus der Politik gezogen werden.«
»Wo ist die jetzt?«
Weder Christian
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