P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Kantonsratssitzung am Montag gesehen worden. Nun hatten wir Freitag. Nach der Sitzung war sie nicht nach Hause gekommen, obwohl Christian sein berühmtes Steinpilzragoût (mit frischen Pilzen von einem Kollegen) angekündigt hatte.
»Fahren wir zum Haus«, schlug Christian vor, »oder wollt ihr hier noch etwas trinken?«
»Zum Haus«, beschloss Nora Nauer für mich.
Ich hatte schon ein Café entdeckt, auf dessen Terrasse vernünftigere Menschen beim Pernod saßen.
Christian wollte, dass ich vorn zu ihm einstieg.
»Wer hätte gedacht, dass wir uns so wiedertreffen«, sagte er wieder, als er auf die Landstraße eingefädelt hatte.
»Ja, ich erinnere mich noch gut an die Sitzungen bei dir zu Hause.«
»Nicht nur Sitzungen. Seit ich Prorektor bin, ist mein Privatleben ziemlich reduziert.«
Er war also Prorektor und hatte sich gleich selbst beurlauben können.
»Das ist alles unbegreiflich, es gab keinen Grund. Politisch war nichts Besonderes los. Wir hatten es gut zusammen.«
»Eine Bilderbuchfamilie«, witzelte Jeannine von hinten.
»Das auch wieder nicht«, brummte Christian, der momentan keine Ironie verstand.
»Wir wollten im Herbst zusammen hierher«, fuhr er fort, »mit Jeannine und Bernard. In ein paar Wochen. Rita hatte keine anderen Pläne.«
Wir fuhren durch eine wirklich hübsche Umwelt, dramatische Felsen links, Reben und Äcker rechts. Dahinter der Lubéron. Auch das Wetter war gut: ein freundlicher Spätsommertag.
Wir kamen in ein kleines Nest. Auf einem Plätzchen sah ich wieder vernünftige Menschen bei Aperitiven sitzen. Aber Christian quetschte seinen Wagen routiniert durch enge Gassen und parkte rückwärts passgenau in einen überdachten Parkplatz.
Das Ferienhaus der Vischers hatte eine phantastische Terrasse mit Sicht auf Weinberge und Lavendelfelder.
Auf dem Weg durch das Wohnzimmer entdeckte ich den schwarzen Manetti-Schuber, der unheilverheißend und allein auf dem rustikalen Esstisch stand.
Christian führte uns gleich auf die Terrasse, wo wir ein paar entzückte Kommentare abgaben.
»Ricard? Kir? Bier? Weißwein?«, fragte er, als wir schließlich Platz genommen hatten. Wie früher war er ein perfekter Gastgeber.
Er brachte die bestellten Getränke persönlich. Und dazu noch drei Sorten Oliven.
Nora Nauer hatte die Befragung schon begonnen. Sie wusste von uns allen am besten, wie Rita Vischer zu ihrem Manetti gekommen war.
Wir hatten beschlossen, von nun an per du zu sein, sozusagen als trauernde Hinterbliebene.
»Fassen wir zusammen«, sagte Nora, die nun offensichtlich der Boss war. »Manetti erscheint letztes Jahr im März. Das Buch verbreitet sich durch die üblichen linken, intellektuellen, kulturellen Kreise und wird so richtig bekannt im Sommer. Ihre Parteikollegin Monika Fehr empfiehlt Rita das Buch, nachdem sie es in den Sommerferien gelesen hat. Rita liest es in den verlängerten Herbstferien – in Suvereto, in Peter Rüeggs Wohnung, sie empfiehlt es verschiedenen Personen weiter, dann gelange ich durch Jeannine an Rita und mache das Interview im Januar. Im Dezember hatte ich schon das Interview mit Elsa gemacht, dann noch ein kurzes Gespräch mit Thomas Schneider knapp vor Weihnachten. Viele LeserInnen lasen Manetti in jenem Winter, unter anderen Margrit Limacher. Im Sommer dieses Jahres war Rita allein hier mit ihrem Manetti und las ihn zum zweiten Mal – etwas schneller. Wann genau kam sie wieder nach Zürich zurück?«
»Am 15. August«, antwortete Christian.
»Heute haben wir den 10. September. Vor einem Monat war die zweite Lektüre durch.«
Das ergäbe eine Inkubationszeit von etwa einem Monat, wollte ich schon sagen, behielt es dann aber für mich. Ich erkannte klar, worauf Nora heraus wollte, aber auf keinen Fall durften wir unsere Theorien bekannt geben, um nicht eine unabhängige Falsifikation zu torpedieren.
»Warum sind all diese Daten so wichtig?«, fragte Jeannine, die irgendwie den Braten roch.
Nora suchte einen Ausweg. »Wir wollen ja herausfinden,ob sich etwas in Ritas Leben oder Haltung in dieser Zeit verändert hat. Wir suchen Gründe für ihr Verschwinden.«
»Und ihr glaubt, das hat mit Manetti zu tun? Warum?« Christian wusste nur von Ritas Verschwinden. Für ihn war Manetti eine Möglichkeit unter vielen.
»Natürlich hat sie viel Zeit damit verbracht, ihn zu lesen«, gab er zu, »und sogar zwei Mal. Noch nie, seit ich sie kenne, hat sie ein so umfangreiches Buch zwei Mal gelesen. Aber es ist nur ein Buch – ich habe auch schon
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