P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
noch Jeannine hatten eine Ahnung.
»Wahrscheinlich in ihrem Büro.«
»Ich kann sie anrufen, wir haben oft mit ihnen zu tun. Ich meine mit ihrer Firma Ecodata.«
Das Bild, das sich nun bot, war folgendes: Zwei junge Frauen tippen eifrig an ihren iPhones herum, zwei ältere Männer nippen an ihren Ricards. Wir bemerkten es und grinsten uns als solidarische Verlierer zu. Ich nahm noch eine Olive.
»Und in der Schule läuft es gut?«
Er winkte ab.
Dann kamen die Infos Schlag auf Schlag.
Nora: »Monika Fehr ist im Urlaub, seit drei Wochen. Unerreichbar. Angeblich beim Tauchen auf den Malediven – aber dort ist sie nicht, keine Buchungen. Da korrekt abgemeldet, hat sie niemand vermisst.«
Jeannine: »Lea Baur ist auch weg. Angeblich zur Weiterbildung in Permakultur in Österreich. Ist dort aber nie angekommen. Und unser Überlektor Thomas Schneider – er ist in Berlin. Aber wo, weiß niemand. Und schon vier Tage ohne Nachricht.«
Christian blickte uns alle zuerst verdutzt, dann empört an.
»Was wird hier gespielt? Was wird mir vorenthalten?«
Auch Jeannine wunderte sich: »Warum musste ich Monika anrufen? Und warum grinst ihr so wissend?«
»Wissend ist zu viel gesagt«, warf ich ein.
Nora fragte Jeannine: »Hat Monika Manetti zwei Mal gelesen?«
»Warum ist das wichtig?«
»Egal, find es heraus.«
»Ich kann ihren Freund Frank fragen.«
»Frag.«
Wieder iPhone, mehrere Anrufe, kreuz und quer.
Jeannine war erbleicht. Christian saß unruhig auf seinem Stuhl.
»Frank ist sicher, dass sie Manetti in diesem Juni nochmals gelesen hat, in Sent. Es hat ihn geärgert, weil er mit ihr nach Sardinien wollte. Und jetzt ist er ganz aufgeregt.«
Nora und ich blickten uns an: Das mit der Inkubationszeit funktionierte nicht so recht. Aber die Faltungstheorie war praktisch induktiv in der Pipeline. Sie war noch nicht falsifiziert.
Ich machte keine falsche Bewegung. Zog aber mein Schienbein aus der Gefahrenzone.
»Ich habe noch einen Arzt und zwei KrankenpflegerInnen«, verkündete Nora und steckte ihr iPhone weg.
»Ich würde sagen, wir haben da ein Muster«, klärte sie Vater und Tochter endlich auf, »Tausende von Menschen haben inzwischen Manetti gelesen. Einige davon zwei Mal. Und viele von denen sind jetzt verschwunden und werden noch verschwinden. Das heißt, es ist nicht die erste Manetti-Lektüre, sondern die zweite, die etwas bewirkt.« »Wir haben noch Marcel Lüthi, der ist bloß übergeschnappt«, wandte ich ein.
»Vielleicht gibt es noch andere psychische Zusammenbrüche, das müssen wir herausfinden.«
»Ich kann das nicht glauben – das müssen wir sofort der Polizei mitteilen.« Christian echauffierte sich. Nora und ich zuckten beim Wort Polizei zusammen. So konnte das nicht funktionieren.
Nora sagte: »Verstehst du, Christian, das ist eine ganz wilde Theorie. Niemand wird das glauben. Aber die Fakten häufen sich.«
»Ihr spinnt doch«, platzte es aus ihm heraus, »die Lektüre eines Texts kann doch keine Menschen zum Verschwinden bringen. Ihr habt zu viel Dan Brown gelesen.«
»Dan Brown – genau«, reagierte Nora, »eine Art Schnitzeljagd.«
Jeannine war schon wieder am Tippen.
»Wir haben hier im Haus Internet«, sagte Christian, »und jede Menge Laptops. Ich könnt eure Schnitzeljagd viel bequemer damit fortführen.«
»Du bist ein Genie«, erwiderte Jeannine und deaktivierte ihr iPhone sofort.
Die beiden Frauen zogen hinüber ins Büro.
»Hast du diese Theorie entwickelt?«, fragte mich Christian in relativ scharfem Ton. Er schwankte zwischen Empörung und Beleidigtsein. Da leistete man sich diesen Schabernack, während man eigentlich seine Frau suchen sollte.
Ich erzählte ihm kurz, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Er wurde nachdenklich.
»Eine komische Sache. Schon beunruhigend, die Häufung dieser Fälle in einer bestimmten Szene. Sieht fast wie eine Seuche aus. Was kann bloß in diesem Manetti stecken, dass die Leute so auf ihn abfahren?«
»Ich habe ja nur kurz hineingeschaut. Es gibt da schon eine hypnotische Qualität, ein Gefühl des Gemeintseins. Du weißt ja, wie das ist: In bestimmten historischen Situationen werden Ideen, die schon vorhanden waren, plötzlich virulent. Ist es denn so abwegig, dass viele momentan Bilanz ziehen? Wir hatten ja schon vierzig Jahre 68, nun dreißig Jahre 1980.«
»Du meinst, all diese Leute nehmen sich eine Auszeit, um sich Rechenschaft abzulegen und die nächste Epoche zu planen?«
»Etwas in der Art. Es ist Zeit für die
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