P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
herumhängen. Hingen.«
»Ich habe Claudia Nielsen einmal getroffen, im Tram.«
»Na, sehen Sie. Die Kreise schließen sich. Ich wette, Lea Baur ist verschwunden. Sie figuriert zwar noch auf der städtischen Website, aber ich werde sie bald anrufen. Nach Aix, wo wir umsteigen müssen. Da haben wir eine halbe Stunde Zeit.«
»Chapeau!«
Das Gute an Frankreich ist ja, dass man dort sein Französisch brauchen kann. Noch.
»Ich finde es komisch, dass ich mir keine Gedanken über das Verschwinden von Manetti-Leserinnen gemacht habe, bis Sie aufgetaucht sind. Wie sind Sie eigentlich darauf gestoßen?«
»Zufällig. Ich wollte mich nur etwas auf meine Lektüre vorbereiten. Ich dachte, ich frag mal eine der von Ihnen interviewten Personen. Dann verschwand Margrit Limacher, dann auch Sie. Da hab ich Sie gesucht – und gefunden.«
»Ja, aber das müsste doch noch andern Leuten auffallen.«
»Wird es auch, jetzt, wo wir den prominenten Fall von Rita Vischer haben.«
»Ich bin nicht sicher. Es wird sich alles um sie drehen, niemand wird sich um Margrit und Marcel kümmern.«
»Dann versuchen wir, möglichst wenige schlafende Hunde zu wecken. Faut pas déranger les chiens qui dorment.«
»Wir haben definitiv keinen Verfolger«, stellte Nora Nauer fest, als sie sich umschaute: Wir waren allein auf einer Bank vor einem leeren Bahnhofsplatz.
»Wäre ich Verfolger, würde ich mich auch nicht hier outen. Wahrscheinlich ist er eine Station weitergefahren, hat ein Taxi genommen und lauert jetzt hinter den Büschen dort.«
Sie lachte. »Wie ich den Augenblick herbeisehne, an dem ich Sie losgeworden bin«, sagte sie.
»Wir werden bald verschwinden – in verschiedene Richtungen.«
Ein blauer Bus kam. Es ging nach Apt. Die Landschaft wurde etwas lieblicher – wenn auch immer noch mit traditionellen provenzalischen Mas dicht überkrustet. Dass die Leute nicht merkten, dass mehr als zwei typische Bauernhäuser pro Hektar definitiv keinen Sinn machen. In Griechenland war es genauso. Überall Bauernhäuser, ganze Halden von »traditional cycladic homes«, Neo-Ruralismus ohne die geringste Spur von landwirtschaftlicher Produktion. Wie blöd musste man sein …
Nora Nauer hatte Christian Vischer am iPhone.
»Ja, wir sind jetzt da bei … Mas St. Pierre. In zwanzig Minuten sollten wir in Apt sein. Gut, bis dann. Sie warten auf uns bei der Avenue de la Libération.«
Im Bus waren noch zwei ältere Frauen. Kein Taxi folgte uns. Vielleicht hatte er aber inzwischen ein Auto gemietet. Ich fragte mich, was er von uns wollen konnte, falls er uns fand.
9.
Christian und Jeannine standen neben einem mittelgroßen silbergrauen Citroën vor dem Restaurant Des Deux Bœufs an der Avenue de la Libération von Apt.
Er trug beige Chinos, elegante Pennyloafers und ein dunkelblauesLeinenjackett, das genauso verschrumpelt war wie sein Gesicht. Christian sah jämmerlich aus: Er hatte Ringe um die Augen hinter der Hornbrille, seine von einem grauen Schnauz kaschierten Mundwinkel hingen herunter. Seinem ausgedünnten grauen Haarschopf war anzusehen, dass er lange nicht mehr gewaschen worden war. Christian war nicht nur von Kummer gezeichnet, er war auch stark gealtert, seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Seine Tochter Jeannine war etwa gleich groß wie er, braun gebrannt und sportlich. Sie hatte kurzes dunkelbraunes Haar, ein rundliches Gesicht mit einer Stupsnase, einen fleischigen Mund. Sie trug halblange dschungelgrüne Wanderhosen, ein weißes T-shirt und Wanderschuhe. (Umweltwissenschaftler tragen immer Wanderschuhe, als ob man heute nicht den größten Teil der verbliebenen sogenannten Umwelt problemlos in Flipflops begehen könnte.) Sie schien es leichter zu nehmen. Sie blickte Nora Nauer erfreut an, trat sofort auf sie zu.
Die Freundinnen umarmten einander, während Christian sich ein Lächeln abrang, mir fest die Hand drückte und sagte: »So sieht man sich wieder.«
»Christian, wir sind hier, um dir beizustehen.«
Er war schon wieder den Tränen nahe.
Ich begrüßte Jeannine mit einem förmlichen Händedruck.
»Guten Tag, Frau Vischer. Das tut mir so leid wegen Ihrer Mutter.«
»Sie kommt schon wieder.« Sie war offenbar recht unbekümmert.
»Bis jetzt haben wir keine Spur«, gab Christian sofort bekannt, »wohin ist sie gegangen?«
»Die Polizei ist eingeschaltet«, informierte uns Jeannine, »ich bin mit einem Suchteam gestern den ganzen Tag in der Gegend herumgestreift.«
Rita Vischer war zum letzten Mal an der
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