P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
öffnete sich zu den ersten Takten von Beethovens bzw. Schillers Ode an die Freude. Wieder einmal wunderte man sich, wer die Tochter aus Elysium war, und wer ihr Vater. Wer ist der Vater der Freude? Und dann war sie auch noch ein Götterfunken, hatte also wahrscheinlich
mehrere
Väter (sonst: Gottesfunken). Ein seltsames Mädchen. Wer war die Mutter? Wer waren die Großmütter der Freude? Und warum kam die Freude aus Elysium, dem Reich der Toten?
Grondin hatte gründlich recherchiert. Seine Resultate erschienen logisch geordnet auf dem Bildschirm.
»Der Fall ist wirklich einzigartig«, musste er zugeben, »wir haben überhaupt keine Spur. Sie hat keine Kreditkarten benützt, keine Telefonate mit ihrem Mobilfon gemacht, keine Flüge gebucht, keine Autos gemietet, keine Polizeimeldungen von Hotels hinterlassen. Natürlich kann sie mit der Bahn überall hingefahren sein, wo man keine Visa braucht, von Griechenland bis Portugal. Sie kann sich auch ein Autoprivat geliehen haben. Oder jemand hat ihr geholfen, was ich für sehr wahrscheinlich halte. Wir haben die Umgebung hier abgesucht, Nachbarn befragt, Bahnstationen, Busfahrer, Taxiunternehmen, Förster, Landwirte, Wildhüter, Cafetiers, Spitäler – nichts. Sie haben inzwischen mit all ihren Freundinnen und Freunden, mit Verwandten und Arbeitskolleginnen telefoniert. Ich habe sie schon einmal gefragt: Hatte sie Feinde?«
Christian antwortete: »Sehr viele, sie war ja kantonale Abgeordnete. Da sie links war, waren natürlich die Rechten ihre Feinde.«
Grondin nickte wissend. »Nur weil man links ist, wird man nicht umgebracht, wenigstens nicht in Mitteleuropa und nicht gerade jetzt. Aber man weiß ja nie, so alle fünfzig Jahre gibt’s dann doch ein Massaker. Wir können hier ja offen reden.«
Er zeigte auf die
MEW
-Bände und grinste verschwörerisch. Dann zuckte er mit den Schultern: »So einen Fall habe ich noch nie erlebt. Dieses spurlose Verschwinden erscheint mir wie die berühmten Zeugenschutzprogramme, wo ganze Identitäten gelöscht werden, damit eine Person ein neues Leben anfangen kann.«
»Rita wollte kein neues Leben anfangen«, protestierte Christian vehement, »sie war mitten drin in verschiedensten Projekten, wir hatten Pläne. Sie wurde eher herausgerissen.«
»Aber dazu brauchte es ihre Kooperation«, wandte Grondin ein.
»Stimmt«, gab Christian zu.
»Ich werde ein neues Kommuniqué herausgeben, in Abstimmung mit Herrn Büchi von der Zürcher Stadtpolizei«, gab Grondin bekannt.
»Und was wird darin stehen?«, fragte Christian.
Grondin zuckte wieder mit den schmalen Schultern. »Nichts. Dass wir nichts wissen, und dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt. Dass man sich auf jeder beliebigen Polizeistelle melden kann, wenn man etwas über ihr Verbleiben weiß.«
Er packte seinen Laptop wieder ein und wandte sich an Jeannine und Nora: »Und die Damen haben auch nichts Neues herausgefunden? Keine Nachricht von Freunden und Bekannten?«
»Nichts«, sagte Jeannine, »meinen Sie, wir sollten nochmals die Umgebung durchsuchen?«
»Dafür gibt es keinen Grund. Wir haben wirklich alle gefährlichen Stellen überprüft, der Helikopter hat nichts entdeckt, die Suchhunde nur ein paar Trüffeln.«
Er schnalzte mit der Zunge.
Ich sah Christian an, dass er versucht war, Monsieur Grondin über unsere Nachforschungen und Theorien zu informieren, aber er hielt stand. Die beiden Frauen wirkten nervös, weil sie an ihre Laptops zurückkehren wollten, was aber wiederum Monsieur Grondins Aufmerksamkeit hätte erregen können.
Dieser hatte inzwischen den falschen Band 11 ergriffen und darin geblättert.
»Der ist nicht nur anders, sondern auch leer. Sehr mysteriös. Hat jemand den Band 11 gestohlen?«
»Das wissen wir nicht. Wir haben den Schuber so im Büchergestell vorgefunden. Es kann sein, dass meine Frau den echten Band 11 mitgenommen und ihn durch dieses Notizbuch ersetzt hat.«
Monsieur Grondin entnahm dem Schuber Band 12.
»Ein schönes Buch«, brummte er, »was steht denn da drin? Ein Tagebuch?«
Christian erklärte: »Nein, das ist ein philosophisches Werk, so im Stil von Montaigne …«
»Ah, Montaigne! Einer meiner Lieblingsautoren. Also kein politisches Buch.«
Monsieur Grondin schob Band 12 behutsam in den Schuber zurück und konsultierte seine Armbanduhr. Sein Blick schweifte wieder zur Non-Fiction-Seite. Er entdeckte die gesammelten Werke von André Gorz. Dann das neuste Buch von Serge Latouche über die
décroissance
.
Christian
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