P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
Ich kannte natürlich Paul Riniker von seinen Filmen. Riniker ging Richtung Wiedikon, über die schöne neue Brücke. Aber ich kannte Manetti nicht, ich wusste nicht, warum und wie man in ihm vorkommen konnte. Meine Freundin erklärte es mir. Es war gut möglich, dass ich in ihm auch vorkam, denn ich hatte in den neunziger Jahren im vorderen Kreis 5 gewohnt und kannte viele Leute vom Bad Oberer Letten. Meine Freundin sagte mir, dass der Obere Letten oft im Manetti vorkam, auch die Drogenszene, das
Wohlgroth
, das
Kanzlei
, das Kino
Xenix
, all diese Szeneorte.
N.: Hatte ihre Freundin denn Manetti gelesen?
L.: Ich glaube kaum. Sie sprach immer nur davon, was andere über das Buch sagten. Die, die Manetti wirklich gelesen haben, reden kaum über ihn. Es wird vieles über ihn gesagt, das gar nicht im Buch steht. Zum Beispiel die Sache mit der Opernhausdemo. Manetti war keine der frühen Kulturleichen, er stieß erst später dazu. Er hat nie nackt demonstriert, war nur am Rande dabei.
N.: Haben Sie nackt demonstriert?
L.: Ich habe überhaupt noch nie demonstriert. Demonstrationen sind nutzlos. Der ganze politische Zirkus … Veränderungen geschehen real in der Gesellschaft, im Alltag.
N.: Und da kommt Manetti ins Spiel.
L.: In einem gewissen Sinn. Nur interessierte sich Manetti nicht für gesellschaftliche Veränderungen. Er glaubte nicht daran. Alles dreht sich im Kreis. Seit den alten Griechen.Alles ist schon einmal da gewesen. Wir sind Puppen in einem absurden Drama.
N.: Es hat Sie dann doch interessiert, was es mit diesem Manetti auf sich hatte.
L.: Ja, es war wohl kein Zufall, dass ich laufend auf ihn stieß. Etwas schob mich in seine Richtung. Manetti berichtet davon, wie dumm all diese griechischen Philosophen waren. Während sie ihre raffinierten Theorien entwickelten, übersahen sie, wie die Wälder abgeholzt und die Grundlagen der Zivilisation langsam vernichtet wurden. Je intelligenter man zu sein meint, umso eher sieht man das Wesentliche nicht mehr. Auf Kreta gab es einmal Zwergelefanten – sie wurden ausgerottet. Sie waren kaum so groß wie Kühe. Sie hatten noch nie mit Menschen zu tun gehabt und waren völlig zutraulich. Und diese sanften Elefäntchen haben wir ausgerottet. Wir sind die, die diese Elefäntchen ausgerottet haben, das sagt doch wohl alles aus über uns. Die griechischen Philosophen waren natürlich rein geistig sehr fortgeschritten – aber war es das wert? Griechenland steckt heute jedenfalls tief im Dreck.
N.: Aber mit der Ausrottung des kretischen Zwergelefanten hat das nun nichts zu tun.
L.: Auch das wollige Zwergnashorn auf Sizilien wurde ausgerottet – von edlen Wilden. Es war ein absolut hinreißendes Tier. Was Manetti meint, ist aber etwas anderes: Die endgültige Bewertung von Fortschritten, auch von unseren Fortschritten, steht noch aus. Die Periode von 1975 bis 1999 war die Zeit der Abrechnung, der Rechenschaftslegung, der Evaluation. Was hatten wir am Anfang? Helikopter, die die letzten US-Bürger aus Saigon flogen. Und am Schluss? Fischer und Schröder an der Macht. Und was haben sie daraus gemacht? Nichts. Jetzt ist in Deutschland wieder die CDU an der Macht und verlängert die Betriebsdauer der AKWs. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesagt.
N.: Und all das haben Sie in Manettis Notizbüchern gelesen?
L.: Nein, nichts davon. Aber auf diese Gedanken haben mich Manettis Notizbücher gebracht.
N.: Und wie haben Sie denn Manetti gelesen?
L.: In Hotels, zwischen Zürich und Lissabon. Ich war mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, Busse, Regionalbahnen. Ich fuhr immer am Morgen zwei, drei Stunden, suchte dann ein Hotel und las Manetti. Das dauerte zwei Monate – dann war ich in Lissabon. Weiter geht’s ja nicht.
N.: Sie hatten Manetti im Gepäck.
L.: Genau. Ich hatte nur eine Reisetasche dabei. Unterwäsche, Toilettenartikel – und zwei Kilogramm Manetti. Ich bezog billige Bahnhofshotels in Provinzstädten und las nachmittags im Bett Manetti. Dann ging ich abendessen.
N.: Das heißt, Sie haben Manetti als eine Art Subtext zu einer Pilgerfahrt genommen.
L.: Auf die Idee wäre ich nie gekommen.
Und dann dankte Frau Nauer Herrn Lüthi für seine Ausführungen. Allmählich begann ich zu erahnen, worum es bei Manetti ging. Er war eine Art sokratischer Katalysator. Er hatte selbst keine besonderen Ansichten, regte aber seine Leser an, solche zu entwickeln. Ein idealer Lehrer. Aber irgendetwas musste ja in seinen Notizbüchern stehen, sonst könnte man sie
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