Polarrot
Mühen den Korb neben den Ofen.
„Was ist, willst ganzen Winter hier bleiben?“, fragte Vittorio erstaunt.
Jack keuchte. „Am liebsten – ja.“ Er schob zwei Scheite in den Ofen.
„So schlimm?“
Jack ließ sich in einen der Ohrensessel fallen. Erst jetzt bemerkte er das geradezu festlich gedeckte Clubtischchen, die Salami, die Käsebröckchen und vor allem die Flasche Wein.
„Danke, Vittorio.“ Er griff nach der Weinflasche und fragte: „Darf ich?“
„Wart. Musst du mit Verstand trinken. Und den hast du noch nicht.“
Jack las die Etikette: Dolcetto 24. „Bauernwein aus der Heimat. Den kann man auch mit geringem Verstand trinken.“
„Bub, dir heute costruzione geplatzt, nehm ich an. Auf diese Tragisch werd ich dir wohl keinen Essig servieren. Obwohl, verdient hättest du es wahrscheinlich. Aber mit saurem Wein lässt sich schlecht denken. Und denken musst du jetzt. Also los, erzähl!“
Vittorio nahm ihm die Flasche aus der Hand, schenkte vorsichtig ein, stellte sie zurück und hob sein Glas: „Salute!“
„Salute!“
Der Wein war ein Wunder. So etwas hatte Jack noch nie getrunken. So sanft, so rund im Geschmack, so fest im Mund, dass er das Gefühl hatte, er könne ihn zerbeißen.
„Herrgottmaria, Vittorio, das ist ja eine Wucht. Was ist das für ein Wein?“
„Musst drehen im Mund, so trinkt man diesen Wein.“
Jack nahm einen weiteren Schluck, schob ihn mit der Zunge die eine Backenwand hoch, ließ das kostbare Nass wieder zurückschwappen, schob es die andere Wand hoch, ließ es wieder zurückschwappen, biss sanft auf ihm herum, ließ den Gaumen die millionenfachen Geschmacksnuancen aufnehmen und erlaubte der roten Flüssigkeit letztlich sachte die Kehle hinunterzurinnen. Seine Mundhöhle war ausgefüllt mit Düften aller möglichen Aromen, die diese Welt hergibt.
Jack lehnte sich zurück, schenkte dem leeren Glas einen wehmütigen Blick, setzte es auf das Tischchen, schaute Vittorio eindringlich an und fragte: „Was ist das für ein Wein?“
Vittorio strich mit dem Handrücken über seinen Schnauzer, holte tief Luft und lächelte genüsslich: „Margaux 99.“
Jack lachte: „Willst du mich veräppeln? Margaux 99?“
„Château Margaux Premier Grand Cru Classé 1899, Bub, so und jetzt erzähl!“
„Ha, Château Margaux Premier Grand Cru Classé 1899. Wenn das wirklich wahr ist, Vittorio, dann zuerst du, sonst sag ich gar nichts!“
Vittorio langte über den Tisch und nahm Jack das Glas weg.
„Heeeh!“
„Bub, Geschichte gegen Château Margaux Premier Grand Cru Classé 1899. Gutes Geschäft – für dich.“
„Gutes Geschäft, gutes Geschäft. Wenn ich dir das alles erzähle, bin ich ja morgen um elf noch nicht betrunken.“
Vittorio brach sich ein Stück Brot ab, schnitt eine Scheibe Salami ab, entfernte die mehlbestaubte Haut, legte die Wurst aufs Brot, klappte es zusammen und schob es in den Mund. Dabei ließ er Jack nicht aus den Augen. Als er fertig gekaut und hinuntergeschluckt hatte, sagte er mit scharfem Unterton: „Unsereiner besäuft sich nicht mit Château Margaux. Und schon gar nicht mit 1899. Also, erzähl!“ Vittorio winkte mit Jacks leerem Glas.
„Geschichte gegen Geschichte.“
„Geschichte gegen Wein. Guter Wein, Bub.“
„Wenn es denn Château Margaux Premier Grand Cru Classé achtzehnhundertneunundneunzig ist …“
„Es ist, credi, porca miseria.“
„Einfach so?“
„Madonna, ich bin Chef de Service von Grand Palace, bestes Hotel der Welt, wer sonst will es denn wissen, Bub?“
Jack zuckte mit den Schultern.
Vittorio warf Jack einen wütenden Blick zu, nahm dessen leeres Glas, schenkte ein und schob es zu ihm hinüber.
„Hab immer Resten abgefüllt. Immer gleicher Wein, gleicher Jahrgang in gleiche Flasche. Mit Sieb, wegen Satz. Falls du weißt, was Satz ist.“
„Das soll ich dir glauben?“
„Ist wahr, Bub!“
„Komm, Vittorio, das ist sicher nicht reiner 99er. So viel 99er wird in diesem Haus auch wieder nicht getrunken.“
„Hast du Ahnung, kleines Geld-Bub. Du vielleicht wissen, wer mit welche Bank verbunden ist, wer wie viel Geld hat und braucht und was Pfund inglese oder Franchi francese in Franchi svizzeri sind, aber wer welchen Aperitif wann braucht, wer die Bloody Mary so und den Dry Martini so trinkt, wer Randen oder Ananas nicht liebt und welcher Gentleman nach dem dritten Glas ausfällig wird und welche Dame beim Anblick von weißem Spargel und Sauce Béarnaise mit ausgezogenem Schuh dem Gegenüber das
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