Polarrot
die Kutsche eingestellt, die Pferde abgeschirrt, -getrocknet, zugedeckt hatte und den Fuhrmantel an den Nagel gehängt hatte, begab er sich schnurstracks in die Küche.
In den großen Töpfen köchelte die mit Sellerie, Rüben und Siedfleisch angereicherte Bouillon vor sich hin und erfüllte die Küche mit ihrem Duft. Jack schnappte sich einen Löffel und kostete, befand sie für zu fade, salzte nach, kostete nochmals, war zufrieden und wünschte „Guten Appetit“.
Er ging durch den großen Speisesaal, nahm sich im vorgelagerten Wintergarten zwei der mit Kaschmirwolle durchwirkten Decken und setzte sich auf die große Aussichtsterrasse.
Zwei winzige Lichter funkelten noch am anderen Seeufer, das leise, rhythmische Bimmeln einer Kutsche war zu hören und den Tannenwipfeln fehlte der Wind, um über das Leid im Tal zu klagen. Es war zapfenkalt.
Zu kalt, um über den heutigen Abend, seine Folgen und was zu tun sei, nachzudenken. Widerwillig und mit klammen Fingern stand Jack auf, war unschlüssig, ob er in seine ebenso kalte Kammer gehen und sich die Decke über den Kopf ziehen sollte, um sich vor dem Schnarchen, dem fuseligen Branntweinatem seines Mitbewohners sowie vor der beißenden Kälte zu schützen, oder ob er sich noch eine Weile in der Küche neben den Ofen setzen, auf die Bäcker warten und ihnen das erste warme Brötchen abschwatzen sollte. Unschlüssig stand er im Speisesaal des Grand Palace, der bereits für das Frühstück hergerichtet war, so versunken, dass er das leise „Jacopo“, „Jacopo“ zuerst gar nicht hörte. Erst beim dritten Mal sah er in der kleinen Türe für das Servicepersonal am Nordende des Saales Vittorio. Vittorio winkte ihn zu sich und flüsterte leise, „komm, komm, Bub, nehmen wir noch ein Glas Wein, gut für Schlaf.“
Vittorio, ja, doch, Vittorio, dachte Jack und ging auf ihn zu.
„Komm, Bub, wie war der Abend? Gewonnen? Bist du jetzt Graf?“
Er hat auf mich gewartet, dachte Jack und schwieg.
„Komm, gehen wir zu mir, ist wärmer.“
Vittorio war Kellner der ersten Stunde im Grand Palace. Er gehörte mit seinem graumelierten Haar, seinem gleichfarbigen Schnauzer und seinen dunklen Augen zum festen Ensemble des Speisesaals, das Jahr für Jahr die adeligen, wichtigen und wichtigtuerischen Hauptdarsteller bei der Inszenierung der immergleichen Tragikomödie über Geld, Macht und Liebe nach Kräften unterstützte.
Er hatte Kaiser, Könige, Minister und Generäle kommen und gehen gesehen. Er kannte von all den Mächtigen, Schönen und Reichen, von denen einige bis auf ein paar schmale Restposten inzwischen alles verloren haben, stets die bevorzugten Tische, die Vorlieben beim Aperitif, die favorisierte Bräune des Toasts, die exakte Kochzeit des Frühstückseis oder die jeweiligen Präferenzen der Garstufen beim Fleisch. Vittorio war im Speisesaal des Grand Palace der Waisenvater für all die verstoßenen Kinder der Revolutionen und Kriege der letzten Jahrzehnte. Mit ausdauernder Geduld und unbeugsamer Höflichkeit umsorgte er auch die am tiefsten gefallenen Gäste, als stünden sie noch immer in Amt und Würden oder auf der höchsten von ihnen erreichten Position im gesellschaftlichen Leben.
Vittorio schloss die Türe zu seinem Zimmer auf. Die Restwärme des Ofens verbreitete eine einladende Behaglichkeit. Er zündete eine Gaslaterne an. „Zwar haben wir hier schon 1879 ‚il spettacolo der elektrischen Licht‘ für unsere Gäst zelebrieret, aber alles für Gäst, nix für Vittorio und sein collega, gopferdeckeli.“
„Warst du da schon hier?“, fragte Jack und fletzte sich in einen abgewetzten, hellbraunen Ohrensessel mit Nieten, die vereinzelt Grünspan trugen.
„Uffschtoh, Bürschteli, ist mein Sessel. Da“, winkte Vittorio Jack hoch und wies ihm einen Polstersessel zu.
„Und, warst du dabei, damals, beim spettacolo des großen Lichts?“
„Bürschteli, ich bin zwar alt, aber so vecchio auch nicht. Und in contrario zu dir, weiß ich, wie man in Bett von russischer Signora kommt. Also raccontare die storia, warum du jetzt bist bei mir und nicht in Bett, Kopf in mezzo zwei großer Brüste.“
„Hast du was zu trinken?“
„Wenn du noch Holz in Ofen schiebst, hol ich Wein und Teller und bicchieri.“
„Wo ist das Holz?“
Vittorio wies auf einen aus Weiden geflochtenen Korb. Er war leer. „Geh holen!“
Vittorio ging in seine winzige Küche, bückte sich und grapschte hinter einem Vorhang, der aus zwei alten, zusammengenähten, grün-weiß
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