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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Köbi, da bist du ja!‘ und kam auf mich zu.“
    Jack leerte das Glas und hielt es Vittorio hin, der füllte nach.
    „Gian, Eisklumpen im Bart, auf seiner erloschenen Krummen herumkauend, den Schlapphut mit dem Schriftzug der Städtischen Fuhrwerke tief ins Gesicht gezogen, stand vor mir und sagte, nein schrie: ‚Köbi, kannst noch ein paar Centimes verdienen, der Reto ist krank, musst eine Fuhr machen, zwei Engländer, zu deinem Palace. Hab dir Schlitten und Fuhrmantel gleich mitgebracht.‘ Sie schaute mit ihren großen dunklen Augen zuerst ihn, dann mich an. ‚Heiliger Bimbam, Köbi, du bist aber aufgemacht, bist auf Aufriss?‘ Sagte es, warf mir den Mantel mit der Bemerkung ‚nimm, es ist zapfenkalt‘ zu, drehte sich um und ging.“
    „Pitsch, patsch?“
    „Nein, noch nicht, ich hatte noch eine kleine Chance, Vittorio, fragte sie doch, ‚du fährst auch noch Kutsche, Jack?‘ Das mit dem Köbi hatte sie scheinbar gar nicht mitbekommen. Aber dann rief der Barkeeper, den ich bei den Skirennen immer geschlagen habe, ‚klar, die armen Toggenburger fahren immer Kutsche, müssen immer Kutsche fahren, noch weiter runter als Toggenburger geht’s nicht mehr.‘ Ich habe mich blitzartig über den Tresen gelehnt und erwischte den Kerl noch an der Krawatte, aber der hieb mit dem Eishacker auf meine Hand, ich schrie auf und drehte mich wieder um, hielt die Hand, krümmte mich und schaute wie ein winselnder Hund zu ihr hinauf.“
    „Pitsch, patsch?“
    „ ‚Toggggenburgerrrr‘, schrie sie entsetzt.“
    „Pitsch, patsch?“
    „Pitsch, patsch.“
    Jack nahm einen Schluck und ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. Vittorio leerte sein Glas, winkte Jack nach vorn, schenkte beiden nach, ging in die Küche und holte die nächste Flasche Dolcetto 24.
    „Weißt du, Bub“, sagte er noch im Gehen, „du, wir kommen nie zu den großen Fenstern.“
    Er setzte sich und stellte die Flasche auf den Tisch. Jack drehte sie so, dass er die Etikette lesen konnte und schmunzelte.
    „Schau doch: Wo sind wir? Bei den kleinen Fenstern. Ob Dachstock, Zwischenstock, Keller, Bauernhütte; alles kleine Fenster. Oder gar keine. Sie sind immer noch in Schlössern und Palästen, Bub. Wir immer noch in den Zwischengängen, hinter den Wänden. Feuern die Öfen von hinten, schaffen Behaglichkeit di dietro. Kleine Fenster, viel Zug, im Dachstock geht der Wind von West nach Ost, im Keller teilen wir Stroh mit Ratten. Bub, wir kommen da nie raus. Leben immer in den Gängen hinter den Salons. Außer sie klingeln, damit wir Wünsche erfüllen können.“
    Vittorio schnitt sich ein Stück Salami ab.
    „Aber, weißt du was, Bub?“
    Jack schüttelte den Kopf.
    „Wir haben amore, Liebe, Bub. Wir nicht müssen standesgemäß heiraten, weil wir sowieso unterster Stand, Toggenburger, Bub. So bleibt amore. Wir können lieben, wen wir wollen. Ohne Rücksicht auf Politik, Interessen, Gesellschaft und Geld.“
    Jack beugte sich nach vorn und wollte etwas dagegen halten, doch Vittorio kam ihm zuvor.
    „Gut, manchmal Dorf schon Dorf, aber trotzdem, wir haben bessere amore. Darum beneiden sie uns. Das gelebte Leidenschaft, voglia, wie sagt man, Gier? Begier?“
    „Begierde.“
    „Si, Begierde, aber auch Verzweiflung alle Teil unsere vita sind. Viel erfahrener, wir.“
    „Das stimmt doch nicht, Vittorio. Da werden in der Nacht oft die Zimmer gewechselt. Das weißt du auch.“
    „Alles Langeweile, alles ohne amore. Darum kommen sie auch manchmal in Zwischengänge, um zu erleben, was sie zu erleben hoffen. Aber Achtung Bub: Wenn sie nur einen Augenblick unserer Freiheit gestohlen und einverleibt haben, lassen sie uns fallen, weil sie sich wieder erinnern, was sie in den vorderen Räumen alles verlieren werden. Also, vergiss es, ihre Messer sind schärfer, ihre Kugeln treffsicherer und ihre Kassen voller. Das bekommst du Bub nie, und schon gar nicht in una notte. Wir haben nicht viel, um viel zu haben. Aber wir haben die Gänge hinter den Gängen, Bub. Basta.“
    „Ich schaffe das, wirst sehen“, antwortete Jack, hielt Vittorio sein Glas hin. Vittorio schenkte nach.
    „Köbi, Bub, was du brauchst, sind Kässeli.“
    „Kässeli?“
    „Ja, fang mal mit … hmm … sagen wir fünf an: eines für Essen, eines für Miete, eines für Steuern, eines für Kleider, eines für Träume und eines für Überraschungen.“
    „Das sind sechs.“
    „Schadet auch nicht.“
    „Und?“
    „Und? Mit Kässeli bekommt auch ein Charakter wie du das Leben in

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