Polivka hat einen Traum (German Edition)
Drüben in der Franz-Josefs-Bahn, in einem Zugwaggon.»
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Die Wiener Endstation der einstigen «k.k. privilegierten Kaiser Franz-Josephs-Bahn» hat schon in Polivkas Jugendzeit ihren Bahnhofscharakter verloren. 1978, hundert Jahre nach seiner Eröffnung, wurde das kaisergelbe Prunkstück des monarchischen Verkehrsverbunds durch einen unförmigen Glaspalast ersetzt, dessen Außenhaut weniger seine Funktion als vielmehr die Geschmacklosigkeit seiner Bauherren widerspiegelte. Die späten Siebziger des 20. Jahrhunderts waren nun einmal die Götterdämmerung des kommunalen Schönheitssinns, ein Zeitalter, in dem man alles für ästhetisch zu halten begann, was im Entfernten einer Discokugel ähnelte.
Die folgenden Jahrzehnte über füllte sich die nichtssagende Form mit dem ihr adäquaten Inhalt: erst die Filiale einer Kaufhauskette und die Büros einer Großbank, dann ein Fitnesscenter, ein Fastfood-Lokal und ein Supermarkt. Der Bahnhof selbst war unter Abertonnen Stahlbeton und Glas versteckt worden – geduckt wie ein ins Unterholz gejagtes Tier. Dass nun, gut dreißig Jahre später, auch das neue Bauwerk abgerissen werden soll, bedeutet nicht, dass Banken, Hamburger und Fitnesscenter aus der Mode sind. Im Gegenteil: Es gilt, mehr Platz für sie zu schaffen. Eines nur soll nach den Absichten der Stadtplaner beseitigt werden, und das ist – die Bahnstation.
Bezirksinspektor Polivka krault sich das Kinn. Er hat seinen Kollegen Hammel schon zweimal gefragt, ob man hier wirklich richtig sei. Ob dieser Tote wirklich hier in Wien und nicht etwa in Langenlebarn aufgefunden worden sei.
«Wie kommen Sie auf Langenlebarn? Dort wären wir ja nicht einmal ermittlungsbefugt.»
«Ermittlungs verpflichtet », hat ihn Polivka verbessert. «Und das hieße, dass die niederösterreichischen Kollegen eine Leiche und wir zwei ein akkurates Frühstück hätten.»
«Stimmt schon … Schauen Sie, da ist eh gleich ein McDonald’s. Wollen wir nicht noch rasch …»
«Ich bitt Sie, Hammel! Akkurat hab ich gesagt.»
Sie queren die niedrige Ankunftshalle und zwängen sich durch eine Schwingtür zu den Bahnsteigen, als ihnen ein uniformierter Polizist entgegentritt. «Wenn ich die Herren ersuchen darf, wir müssen hier entlang …» Mit einer devoten Verbeugung deutet er nach links und eilt voraus.
«Mir scheint, im Polizeidepot werden jetzt auch schon Livreen verteilt», brummt Polivka und trottet dem Beamten hinterher.
Auf Bahnsteig Nummer 1, dem sogenannten Betriebsgleis, ist der Frühzug aus Tulln abgestellt. Es handelt sich um eine jener älteren Garnituren, die noch nicht wie riesige Massagestäbe wirken, ein Zug wie eine Eisenbahn, bei dem die Fenster wenigstens von außen suggerieren, dass man sie von innen öffnen kann. Vor dem zweiten der beiden Waggons blickt den Männern ein schweigendes Grüppchen entgegen: zwei weitere Polizisten und drei Bahnbeamte, wie Polivka anhand der Uniformen konstatiert.
«Guten Morgen allerseits.»
Die beiden Polizisten salutieren. Der kleinste der drei Eisenbahner tut es ihnen gleich, um nach erfolgter Huldigung auf Polivka und Hammel zuzutreten und ihnen die Hand zu reichen. «Die Herren sind vom Kommissariat?»
Ein Wichtigmacher – höchstwahrscheinlich Innendienst, denkt Polivka. Er nickt.
«Franz Josef Parnow. Fahrdienstleiter der Betriebsstelle Franz-Josefs-Bahnhof.»
Kurz stockt Polivka der Atem. Gerade noch befriedigt, mit der Einschätzung des Mannes recht gehabt zu haben, fühlt er nun, wie ihm die Zornesader schwillt. Ein Wichtigmacher und ein Scherzbold also. Nicht, dass Polivka grundsätzlich etwas gegen Scherze einzuwenden hätte, aber
1. nicht bei einer Mordermittlung um sechs Uhr morgens
2. und schon gar nicht , wenn der Scherz auf seine Kosten geht.
«Ist das Ihr Ernst?», fragt er mit steinerner Miene.
«Es hat sich so ergeben, meine Eltern haben mich so getauft. Sie können gerne meinen Ausweis sehen.»
So rasch kann sich Verdrossenheit in Zorn und Zorn in Heiterkeit verwandeln. Polivkas Mundwinkel zucken. «Ich nehme an, Ihr Herr Papa war auch schon bei der Eisenbahn?»
«Das nicht. Nur Monarchist», erwidert Parnow.
Ein kurzes, verhaltenes Quietschen ist hinter Polivkas Rücken zu hören: Hammel, hochrot im Gesicht, versucht, seine Lachmuskeln unter Kontrolle zu bringen.
«Gut, Herr Parnow. Oder besser: Nichts für ungut.»
«Keine Ursache, ich bin es ja gewohnt», seufzt Parnow und streift seine beiden Kollegen mit einem resignierten Seitenblick. Die zwei
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