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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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betätigt und dann rasch den Zug verlassen hat. Das klingt plausibel.»
    «Vielleicht war’s ja nur ein Bubenstreich», mischt Hammel sich schon wieder ein. «Und wie der kleine Racker dann die Leiche gesehen hat, ist er vor lauter Schreck weggelaufen.»
    Polivka seufzt auf. Wie immer strapazieren Hammels Phantasien seine Nerven. Umso willkommener sind ihm die mausgrauen Männer: Sie haben die Hürde der Schwingtür nun endlich bewältigt und tragen den leicht deformierten Sarg den Bahnsteig entlang.
    «Zu früh, meine Herren!», ruft Polivka ihnen entgegen. «Ihr wisst ja: zuerst der Arzt, dann die Ermittler und die Spurensicherung, dann lange nichts, und irgendwann so gegen Abend ihr.»
    «Entschuldigung, Herr Kommissar …» Der Fahrdienstleiter Parnow hebt die Hand, als wolle er vom Lehrer aufgerufen werden.
    «Bitte, Parnow», schmunzelt Polivka.
    «Der Doktor ist schon drin, Herr Kommissar, der war nämlich vor Ihnen da.»
    «Vor uns? Unglaublich.» Polivka schickt sich an, den Wagen zu erklimmen, als er merkt, dass Hammel ihm zu folgen droht. «Momenterl, Hammel … Bitte gehen S’ derweil hinüber in den Warteraum und nehmen Sie sich die drei Passagiere vor.»
    Problem gelöst, Kollege Hammel abgeschoben. Unzufrieden wuchtet Hammel seine hundert Kilo an den Sargträgern vorbei in Richtung Eingangshalle.
    «Entschuldigung, Herr Kommissar …» Schon wieder Parnow.
    «Ja, was ist denn noch?»
    «Ich wollte Herrn Kommissar nur fragen, ob Sie uns hier noch benötigen.»
    «Nicht im Moment. Wo kann ich Sie erreichen, falls noch Fragen sind?»
    «Gleich hier.» Franz Josef Parnow deutet auf den Seitentrakt, der Bahnsteig Nummer 1 flankiert – ein Trakt wie die Berliner Mauer, allerdings von Osten her betrachtet.
    «Und Sie?», fragt Polivka die beiden anderen Eisenbahner.
    Winter und Benkö wechseln einen kurzen, einmütigen Blick. «Beim Orlik drüben», sagen sie dann unisono.

    Die Tür zum Fahrgastraum ist innen blutverschmiert: ein sternförmiger Fleck in Bauchhöhe, von dem sich eine rote Schleifspur abwärts zieht. Sie endet knapp über dem Boden, wo die aufgeplatzte Nase Karl Woditschkas am Türrahmen klebt. Obwohl Woditschka am Bauch liegt, ist sein Kopf so weit zurückgeknickt, dass man die Augen sehen kann: zwei zartgelbe Schlitze, die auf das Metall starren, als befände sich dahinter eine bessere Welt. Und vielleicht tut sie das ja auch.
    «Eine Zugfahrt, die ist lustig, eine Zugfahrt, die ist schön.» Doktor Rakesh Singh streift sich die Schutzhandschuhe ab und blendet Polivka mit seinen strahlend weißen Zähnen. «Jedenfalls bei uns in Indien, da können solche Dinge nämlich nicht passieren. Bei uns sind die Waggons zwar nicht gepolstert wie die Wände einer Gummizelle, aber dafür chronisch überfüllt. Wer nicht mehr in den Zug passt, klammert sich von außen daran fest, und wenn da auch kein Platz mehr ist, dann klettert man eben aufs Dach.»
    «Ein raffiniertes Sicherheitskonzept», brummt Polivka.
    «Man kann vielleicht hinunterfallen und gerädert werden, aber dass sich einer im Waggon den Hals bricht, habe ich noch nie erlebt.» Doktor Singh reicht Polivka die Hand. «Sie sehen müde aus, Herr Bezirksinspektor. Müde und hungrig.»
    Wie viel Abscheu vier Buchstaben ausdrücken können: «Diät», sagt Polivka. «Seit einer Woche schon.»
    «Wahrscheinlich nicht die richtige. Sie sind ein Vata-Typ …»
    «Ich habe keine Kinder.»
    Doktor Singh lacht auf. «Nein, nein, das Wörtchen Vata stammt aus dem Sanskrit. Im Ayurveda, der indischen Weisheit des Lebens, haben Vata-Typen einen wachen Geist, aber ein schläfriges Verdauungsfeuer. Essen Sie nach Möglichkeit gekochte Speisen, warm und leicht verdaulich, und Sie werden sehen, Sie sind schon bald ein neuer Mensch.»
    «Ich wusste nicht, dass Sie auch Lebende behandeln, Doktor Singh.»
    «Nur, wer die Melodie beherrscht, kann auch die Pausen spielen.» Und wieder dieses Lächeln: eine Kavalkade blank geputzter Lipizzanerzähne.
    «Schön gesagt. Und diese Pause?» Polivka zeigt auf den Toten. «Kann man da schon etwas hören?»
    «Des Pathologen Weisheitsquell erschließt sich erst mit dem Skalpell. Solange ich den Patienten nicht geöffnet habe, müssen Sie mit Improvisationen vorliebnehmen. Also, im Moment sind folgende Läsionen festzustellen: zunächst eine Fraktur des zweiten Halswirbels, die auch den Tod verursacht haben dürfte. Ferner eine weitere Fraktur des Nasenbeins und eine Riss-Quetschwunde an der Nase, beides

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