Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
gespannter Schürze Rosinenschnecken über die Ladentheke reichten. Und
die rosigen Metzgersfrauen schenkten den Kindern Fleischwurststücke, die diese mit kleinen und gierigen Händen ergriffen.
Und was die Menschen an ihren Leibern trugen, die bunten Pullover, die engen Jeans in sattem Blau, die Digitaluhren der Männer,
erinnerte mich an Gewänder, an den Samt und das Gold und die Seide aus Märchen, wenn das arme Mädchen, eine verkannte Prinzessin,
am Ende einer abenteuerlichen Irrfahrt in den Königspalast zog.
Wir legten die schäbigen Klamotten ab, von jetzt auf gleich, wir wollten uns in der Masse einrichten: indem wir Levi’s-Jeans
trugen, Geburtstage statt Namenstage feierten, uns an Karneval verkleideten wie die Deutschen. Doch standen wir etwas verloren
in der Koblenzer Altstadt, als Kamellen auf uns niederregneten. Es galt, die rheinische Theatralität nachzuahmen. Das war |28| eine doppelte Inszenierungsanstrengung, da wir die Inszenierung der anderen zu kopieren suchten. Doch Vater rief den grell
geschmückten Wagen und Funkenmariechen nur sehr verhalten ein Koblenzer »Helau!« entgegen.
Wie die meisten Immigranten aus Polen waren wir damit beschäftigt, nicht aufzufallen. Schließlich hatten wir kommen dürfen,
wie all die Hunderttausenden anderer polnischen Aussiedler, da wir, so die Doktrin, deutscher Volksabstammung waren. Zu Hause
sah es anders aus, zu Hause besuchten uns andere Aussiedler oder polnische Asylbewerber, kein deutsches Wort kam über ihre
Lippen, und bis heute hat kaum ein Deutscher, der in diesem Land auch aufgewachsen ist, die Türschwelle meiner Eltern übertreten.
Derzeit wird heftig über Integration gestritten. Die einen beklagen einen vermeintlich naiven Multikulturalismus, der nun
kläglich versagt habe. Mit strengen Aufnahmekriterien, Landeskundetests und Sprachkursen soll künftig der Entstehung von Parallelgesellschaften
vorgebeugt werden. Und mit Genugtuung wird der Traum eines bunten Karnevals der Kulturen als Verblendung von Gutmenschen gegeißelt.
Diese hätten fatalerweise das gebrochene Verhältnis der Deutschen zur Nation nur fortgepflanzt. Die sogenannten Multikulturalisten
wiederum wittern eine ganz andere Realitätsverweigerung: Hatte man nicht über Jahrzehnte |29| wider besseres Wissen geleugnet, daß Deutschland schleichend zum Einwanderungsland mutiert war?
Die Polen kommen in dieser Debatte kaum vor, denn sie haben integrationstechnisch einen dritten Weg gewählt. Weder haben sie
sich integriert, noch kann man sagen, daß sie sich nicht integriert hätten. Sie haben sich einfach unsichtbar gemacht.
Nur zur Begriffsklärung: Nennen wir diejenigen, die aus blutsverwandtschaftlichen Rechtsgründen sogleich einen deutschen Paß
bekamen, wie auch diejenigen, die im Kalten Krieg flohen, der Einfachheit halber: die Polen. Denn zumeist waren die Gründe
für eine Ausreise identisch. Aussiedler hatten in den seltensten Fällen einen innigeren Bezug zu Deutschland als die Polen,
die mit polnischem Paß geduldet wurden. Beide trieben das kommunistische Regime und Versorgungsengpässe aus dem Land.
Man sprach bei Aussiedlern von deutschen Minderheiten in Ostpreußen oder Schlesien, die endlich in ihr ersehntes Mutterland
zurückgefunden hätten. Die Realität sah anders aus. Die meisten gingen, weil sie durften. In zweiter oder dritter Generation
waren ihre deutschen Wurzeln bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Sie sprachen polnisch, nicht deutsch; sie tranken Wodka,
nicht Bier; sie gingen putzen und wurden selten Ingenieure. Sie waren Ausländer mit deutschem Paß.
|30| Meine Eltern fanden Arbeit: Meine Mutter wurde Putzfrau, mein Vater arbeitete weiterhin als Maschinenbautechniker. Nur deutsche
Freunde haben sie nicht gefunden, sie sind bis heute weder im Kegel- noch im Gesangsverein. Sie camouflierten ihre Herkunft,
sie verkleideten sich (sehr verhalten: Vater mit Clownsnase, Mutter mit Kopfschmuck beim rheinischen Karneval), um ihre vermeintlich
erfolgreiche Integration zur Schau zu stellen. Sie wollten dazugehören und gleichzeitig abseits bleiben.
Um nicht aufzufallen, lebten sie wie Chamäleons, die ihre Farbe dem Gestein anpassen, auf dem sie sitzen. Aus Angst, erkannt
zu werden. Und manchmal scheint es mir, als sei dies bereits mehr, als man von Migranten erwarten kann.
Frage ich meinen Vater, weshalb er keine Deutschen kennt, sagt er, er hätte immer soviel arbeiten müssen, da habe man
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