Im Haus des Wurms
Im Haus des Wurms
Vor undenklichen Zeiten war das Haus des Wurms in Verfall geraten. Das schien nur allzu natürlich, denn Verfall ist lediglich ein anderer Name für den Weißen Wurm. Die Yaga-la-hai, die Kinder des Wurms, lächelten darüber und ließen sich von ihrem gewohnten Lebenswandel nicht abbringen, obwohl ihre Zahl von Jahr zu Jahr abnahm, die Gobelins an den Wänden der endlosen Höhlengänge verrotteten, das Fleisch knapp wurde und selbst die Felsen zu Staub zerfielen. In den oberen Höhlen mit den schmalen Fensterschächten, durch die die düstere Röte der aufgeblähten, sterbenden Sonne flutete, lebten und starben die Kinder des Wurms. Sie sorgten dafür, daß die Fackeln brannten, feierten Maskenbälle und schlugen das Zeichen des Wurms, wenn sie in die fensterlosen, finsteren Tunnel kamen, wo die Grauns, wie man sagte, murrend auf der Lauer lagen.
(Die Hallen und Höhlen im Hause des Wurms galten als so tief und unergründlich wie der schwarze Himmel darüber, und nur ein kleiner Teil der zahllosen, uralten Kammern wurde von den Yaga-la-hai in Besitz gehalten.)
Am Ende, so glaubten die Kinder des Wurms, würde der Weiße Wurm zu ihnen kommen, aber er kriecht äußerst langsam, und während des lang andauernden Verfalls, der helle, kranke Farben der Fäulnis malte, ließen sich herrliche Feste feiern. In dieser Haltung wurden sie von dem regierenden Menschwurm und seinen bronzenen Rittern sowie durch eine Jahrhunderte alte Tradition bestärkt. So überlebte das Haus des Wurms, trotz der kriechenden Gefahr durch die Grauns von unten und trotz der ausbrennenden Sonne von oben.
Alle vier Jahre trafen sich die klügsten, gewitztesten und adeligsten Yaga-la-hais in der Kammer des Obsidians, um die Sonne zu betrachten und unter ihren sterbenden Strahlen zu feiern. Dieser Saal war der geeignetste Ort für ein so großartiges Fest. Er lag an höchster Stelle im Hause des Wurms, und alle Höhlen, die in ihn mündeten, führten steil nach oben. Boden und Decken sowie drei Wände des Saales bestanden aus Platten geschmolzenen Obsidians, so glänzend wie ein Spiegel und so kalt und schwarz wie der Tod. In den vier Jahren, die zwischen diesen Sonnenmaskeraden lagen, putzten und polierten Kinder des Wurms von niederer Herkunft, die sogenannten Fackelpfleger, mit unermüdlichem Fleiß den Saal. Und wenn die bronzenen Ritter kamen und die Fackeln anzündeten, reflektierte das Licht im schwarzen Glas um sie herum. Dann versammelten sich die Gäste zu Hunderten, alle in bunten Kostümen und phantasievollen Masken, und der Obsidian verzerrte ihre hellen Gesichter und anmutigen Gestalten, so daß der Eindruck entstand, als tanze eine wilde Schar von Dämonen in einer großen schwarzen Flasche.
Aber da war noch das Fenster in der Kammer des Obsidians. Es füllte die ganze vierte Wand aus und bildete den Hintergrund für die mit Sand gefüllte Mulde, in der sich der Menschwurm ringelte. Das Fenster war kristallklar, und doch stärker als alles bekannte Glas. Im ganzen Haus des Wurms gab es nirgendwo ein vergleichbares Fenster. Hinter der gewaltigen Scheibe erstreckte sich eine öde, windstille Ebene, nichts als Dunkelheit und Leere. Nur am Horizont ragten die Umrisse zerbröckelnder Steinberge oder Ruinen auf.
Genaues ließ sich nicht erkennen, das Licht war zu schwach.
Die Sonne nahm den halben Himmel ein. Sie überspannte den Horizont von einem Ende zum anderen und berührte mit ihrem Scheitelpunkt den Zenit. Darüber dehnte sich der Himmel aus, dessen Schwärze nur von einer Handvoll Sterne durchbrochen wurde. Die Sonne hatte die Farbe von Asche, und nur an einigen Stellen schien noch Leben in ihr zu stecken. Glühende Ströme schlängelten sich wie feurige Venen über ihr müdes Gesicht. Früher einmal, als die Kinder des Wurms noch mit den Teleskopen herumgespielt hatten, war ihr Interesse an der Sonne größer gewesen. Die Namen, die sie den einzelnen Feuerkanälen gegeben hatten, waren längst vergessen. Da, wo die Ströme ineinander mündeten, brodelten gelbrote Seen, und an einigen Stellen pulsierte tiefrotes Licht unter der dunklen Aschenkruste.
Am meisten beeindruckten aber die Seen, die beiden riesigen Ozeane, die mit jedem Maskenball kleiner und dunkler wurden. Von dem einen war nur ein Ausläufer am Rand der Scheibe zu erkennen, der andere brannte in der Sonnenmitte und ließ die Silhouetten der Ruinen am Horizont deutlich hervorspringen.
Von Mittag an, wenn die Sonnenmaskerade begann (die Zeiten
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