PolyPlay
ihm allerdings gerade nicht einstellen.
»Die Daten zu dem Jungen?«, fragte er.
»DWE«, gab Schumacher zurück.
»Ich bin in meinem Büro.«
Sein Büro kam Kramer an diesem Morgen besonders unattraktiv vor. Die alten Möbel, der bescheuerte rote Kunstledersessel und natürlich der brandneue Rechner auf dem Schreibtisch, der zu dem Rest passte wie die Faust aufs Auge, sie deprimierten ihn heute Morgen besonders nachdrücklich. Er hängte Jacke und Hut an den Garderobenhaken und setzte sich. Auf dem Abreißkalender an der Wand stand zu lesen: »Deutsche Volkspolizei – Wir sichern die sozialistischen Errungenschaften«. Darüber hing ein Porträt des Staatsratsvorsitzenden Modrow. Kramer schloss die Augen.
Während er die Augen geschlossen hielt, passierte etwas, das er gut kannte. Die Bilder des Morgens flimmerten über seine Netzhaut wie Phosphene: Michaels Kopf, das FDJ-Plakat, der Hausmeister, alles in wildem Durcheinander. Kramer wollte sich entspannen, er wollte wenigstens für ein paar Minuten den ganzen Mist aus seinem Leben verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Im Normalfall war das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass er neugierig geworden war. Ein paar Details an einem neuen Fall reizten seine Phantasie und verwandelten sich aus bloßen Tatsachen in etwas anderes: in den Rohstoff für ein Rätsel, das er lösen wollte. Gleichgültig, was es war – Bilder, das Wort eines Zeugen, ein Geruch am Tatort –, es wurde durch diesen Prozess der Verwandlung plötzlich wichtig für Kramer, sein Interesse war geweckt, er wollte sich ein Bild machen. DWE, hatte Schumacher gesagt. »DORA weiß es.« Kramer öffnete die Augen. Er wollte wissen, wer Michael Abusch war. Gewesen war, um genauer zu sein.
Die blaue DORA-II-Eingabemaske verschwand sofort, als Kramer den Namen eingegeben hatte. DORA II: »Dialogorientiertes Recherche- und Auskunftssystem über Personen und Sachen« Version zwei, die Weiterentwicklung des DORA-Systems aus der alten DDR, das Datenrückgrat der Deutschen Volkspolizei. DORA kannte mehrere Michael Abuschs in Berlin, aber Kramer wählte den aus, den Schumacher mit einem kleinen roten Fähnchen als das Opfer von heute Morgen gekennzeichnet hatte. Kramer staunte immer noch über die Funktionalität des Systems: Die Informationsdichte war beeindruckend. Lebenslauf, biometrische Daten, Porträtaufnahmen, polizeiliches Führungszeugnis, Fingerabdrücke, Stammbaum, AV (Aktuelle Vorgänge). Alles schön übersichtlich in benutzerfreundlich über den Bildschirm verteilten Fenstern.
Kramer war ein wenig scheu, aber er klickte dann doch zuerst die Porträts an. Es gab verschiedene, von einfachen Schwarzweißaufnahmen aus dem ersten Kinderausweis bis zu einem aktuellen 3D-Porträt des Sechzehnjährigen, und das interessierte ihn selbstverständlich am meisten. Das Gesicht sagte ihm nichts. Ein normales Jungengesicht, blonde Haare, ein wenig verstrubbelt, helle Augen, Pickel hier und da. Kramer klickte auf »rotieren« und Michaels Kopf drehte sich auf Kramers Bildschirm, wie er sich in der 3D-Kamera gedreht hatte, als er vom Erkennungsdienst zum Nutzen und Frommen der Staatsorgane abgelichtet worden war. In einem kleinen Subfenster war der Anlass für die erkennungsdienstliche Behandlung vermerkt: »Aufgriff Jugendclub Taube 22.2.2000, Hausfriedensbruch, Abschluss Vorgang GG AZ/1470308 C«. Das bedeutete, dass Michael vor anderthalb Monaten von einem Gesellschaftlichen Gericht wegen Hausfriedensbruchs verurteilt worden war. Kramer hätte das Strafmaß auch erfahren können, denn das Aktenzeichen war mit den Gerichtsakten des betreffenden GG vernetzt, aber das interessierte ihn nicht. Die Verurteilung hatte Michael nicht davon abgehalten, weiter über die Öffnungszeiten hinaus in dem Jugendclub herumzulungern, das stand fest.
Stammbaum, Ebene 2, Eltern, Stiefeltern, Erziehungsberechtigte. Leibliche Eltern: Bernhard und Katharina Abusch, er Physiker, sie Pianistin. In der alten DDR waren beide erste Sahne gewesen, bis Bernhard kurz vor der Wende »RF« verübt hatte. Republikflucht. Über Katharina war zu erfahren, dass ihre Karriere darunter gelitten hatte, aber nicht wirklich gefährdet worden war. Bereits kurz nach der Wende hatte sie wieder Konzerte gegeben, und das waren keine Auftritte in der Provinz gewesen: Gewandhaus Leipzig, Festspiele in Salzburg, Kurzauftritt bei den zentralen Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung in Berlin (erster Jahrestag) am 3. Oktober 1991. Kramer runzelte
Weitere Kostenlose Bücher