Poppenspael
Mädchen
aus der hinteren Reihe.
»Richtig!«,
bestätigt die Lehrerin, »das ist unser übliches
Handeln nach dem Lustprinzip. Bloß jedes Lustprinzip ist
unweigerlich an das Realitätsprinzip gekoppelt. Stellt euch
vor, ein Räuber bedroht jemanden und sagt ihm, er soll sofort
sein Portemonnaie rausrücken. Würde derjenige das etwa
machen, weil er es soll?«
Hanna Lechner macht
eine gezielte Pause und lässt ihren Blick fragend über
die Klasse schweifen. Niemand antwortet.
»Nein!«,
fährt sie fort. »Sehr wahrscheinlich würde er es
nur deshalb machen, weil er sein Leben retten will. Er will also
etwas! Und was sagt uns das? Wer nichts will, an den kann keine
Forderung gestellt werden, bei dem geht jedes Sollen ins
Leere.«
Ein langer Klingelton
kündigt das Ende der Ethikstunde an. Schlagartig kehrt Leben
in die neunte Klasse zurück. Stühle werden lautstark nach
hinten geschoben, alle beginnen gleichzeitig zu reden.
»Hallo! Haalloo!
Ruhe bitte!«, schneidet die scharfe Stimme von Hanna Lechner
in den Lärmpegel. »Noch beende ich hier die
Stunde!«
Es braucht geraume
Zeit und wiederholte Appelle, bis wieder eine annehmbare
Lautstärke einkehrt.
»Da ihr nun
hoffentlich verstanden habt, dass jedes Sollen ein vorheriges
Wollen voraussetzt, appelliere ich deshalb an euer Wollen und gebe
euch zwei Fragen für die nächste Stunde mit auf den Weg:
Was ist das letzte Ziel unseres Strebens? Und was ist das
höchste Gut?«
Mit schrillem Gejohle
stürzen die Ersten in Richtung Tür. Davor staut sich kurz
eine Traube Schüler und Schülerinnen, bis nach heftigem
Gedrängel das Klassenzimmer leer ist. Hanna Lechner packt
kopfschüttelnd ihre Unterlagen in die Aktentasche und
schlendert gedankenverloren auf den Flur hinaus.
Hanna Lechner hat noch
108 Stunden zu leben.
Sie freut sich auf die
kommende Woche, hat extra möglichst viele Freistunden in die
Zeit gelegt. Ab Morgen werden die Pole-Poppenspäler-Tage sie
ziemlich in Beschlag nehmen. Aber das wird kein unangenehmer
Stress, das wird Befriedigung pur bedeuten. Für die Lehrerin
ist das Festival immer der persönliche Höhepunkt des
Jahres. In dieser Zeit bekommt sie von allen Seiten Anerkennung,
mehr als in der Schule. Die Poppenspäler-Tage holen Hanna
Lechner aus ihrem sonstigen Einsiedlerleben, in dieser Zeit
fühlt sie sich gebraucht und lebendig. Immerhin gehört
sie zu den Frauen der ersten Stunde, hat Jahr für Jahr ihre
gesamte Freizeit dafür geopfert, um bekannte Puppenspieler und
Figurentheater hier in die Poppenspälerstadt des Theodor Storm
zu holen.
Das liegt jetzt
bereits 19 Jahre zurück. Als wenn es erst gestern gewesen
wäre, kann sie sich noch genau daran erinnern.
An dem historischen
Tag hatte sie mit Frieda Meibaum im Storm-Café
zusammengesessen. Es war bereits früh am Abend gewesen, als
sie über die Novelle ›Pole Poppenspäler‹
sprachen. Frieda arbeitete zu der Zeit noch als Sekretärin im
Storm-Archiv und besaß ein profundes Wissen rund um den
Dichter der deutschen Nordseeküste. Sie selbst regte sich im
Laufe des Gesprächs darüber auf, wie stiefmütterlich
die Stadtväter von Husum ihren großen Dichter in der
Vergangenheit behandelt hatten.
»Mir geht es
einfach nicht in den Kopf, warum das alte Stormhaus in der
Wasserreihe erst vor neun Jahren zum Museum gemacht wurde«,
hatte sie ärgerlich gesagt. »Schließlich hat Storm
dort in seinem Arbeitszimmer die berühmte Geschichte vom
Puppenspieler geschrieben.«
»Bei uns im
Norden gehen die Uhren langsamer, Hanna. Das kannst du nicht
wissen, du kommst aus dem Süden. Der Menschenschlag hier ist
so ’n büschen träge und schwerfällig. Die
Stadtoberen haben sogar schon mal in Betracht gezogen, Storms
Elternhaus in der Hohlen Gasse abzureißen.«
»Unfassbar!
Dabei ist Storm doch ein Zugpferd für den Tourismus in der
Stadt. ›Pole Poppenspäler‹ ist zum Beispiel die
Lieblingsnovelle aus meiner frühesten Jugend, wahrscheinlich
wegen Lisei, der Tochter des Puppenspielers, die darin bayerisch
spricht.«
»Ja, Pole
Poppenspäler hat auch mich begeistert.«
»Weißt du
was? Ich finde, wir sollten was mit Puppenspiel organisieren,
einfach ein Wochenende lang, oder vielleicht eine ganze Woche. Das
wäre doch was, oder? Möglichst viele Puppenspieler aus
ganz Deutschland spielen auf dem Markplatz in Husum Stücke
für Schulkinder, so eine Art Kasperle-Festival, oder so was
Ähnliches!«
»Nee, Hanna,
bloß kein Kasperle-Theater! Das ist was für den
Jahrmarkt. Aber
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