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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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dass er sich schon lange danach gesehnt hatte, sie anfassen zu dürfen. Er sortierte sie in die verschiedenen Fächer der Plastikschachtel, kippte sie wieder aus, vermischte sie und fing von vorne an. Ich versuchte ihm zu helfen, merkte aber, dass er wütend wurde, und nach einer Weile ging ich heim. Er schaute nicht einmal auf.
    Draußen standen die Brüder noch immer zusammen. Der Kies war inzwischen zu einem kreisförmigen Wall getreten worden. Die gleichen wütenden Schläge, der gleiche stumme Hass, aber jetzt mit langsameren, müderen Bewegungen. Ihre Hemden waren durchgeschwitzt. Ihre Gesichter waren grau hinter dem Blut, leicht mit Staub gepudert.
    Da bemerkte ich, dass sie sich verwandelt hatten. Das waren keine richtigen Jungen mehr. Ihre Kiefer waren angeschwollen, die Eckzähne ragten zwischen den geschwollenen Lippen hervor. Ihre Beine waren kürzer und kräftiger, wie die Schenkel eines Bären, sie schwollen an, dass die Hosen in den Säumen knackten. Die Nägel waren schwarz geworden und hatten sich zu Klauen entwickelt. Und jetzt erkannte ich, dass das keine Erde im Gesicht war. Das waren Haare. Ein dichter Pelz, der sich dunkel über ihre hellen Jungswangen ausgebreitet hatte, den Hals hinunter und weiter bis in den Hemdkragen.
    Ich wollte laut rufen, um sie zu warnen. Ging einen unvorsichtigen Schritt näher heran.
    Beide hielten inne. Wandten sich mir zu. Rotteten sich zusammen, sogen meine Witterung ein. Und jetzt sah ich den Hunger. Den lebensbedrohlichen Hunger. Sie wollten essen, wollten Fleisch.
    Ich trat mit einem eiskalten Gefühl im Bauch ein paar Schritte zurück. Sie knurrten. Näherten sich Schulter an Schulter, zwei wachsame Raubtiere. Dann wurden sie schneller. Traten aus ihrem Kiesring heraus. Gruben ihre Klauen in den Boden, bereit zu einem schrecklichen Sprung.
    Die Dunkelheit wölbte sich über mir.
    Mein Schrei, der erstickt wurde. Die Angst, das Jammern, ein quiekendes kleines Ferkel.
    Ding. Dang. Dong.
    Kirchenglocken.
    Die heiligen Kirchenglocken. Ding dang. Ding dang dong. Auf den Hof radelte eine weiß gekleidete Gestalt, eine leuchtende Gestalt, die in einer mehligen Wolke von Licht seine Klingel betätigte. Er hielt wortlos an. Mit Riesenfäusten packte er die Tiere, hob sie beide beim Nackenfell und schlug die Steckrüben zusammen, dass es knackte.
    »Papa«, jammerten sie, »Papa, Papa .«
    Und das Licht wurde matter, und der Vater warf die Söhne auf die Erde und packte sie beim Fußgelenk, einen Sohn in jeder Faust, und so zog er sie über den Gartenweg, hin und her, er ebnete den Kiesring mit ihren Vorderzähnen, bis der Hof wieder schön und ordentlich war. Und als er damit fertig war, weinten beide Brüder, sie weinten und waren wieder zu Jungen geworden. Und ich lief nach Hause, rannte, so schnell ich konnte. Und in meiner Tasche lag eine Schraube.
    Niilas Papa hieß Isak und er stammte aus einem alten Laestadia-nergeschlecht. Schon als kleiner Junge war er zu Gebetsstunden in den verrauchten Rauchstuben mitgeschleppt worden, in denen dunkel gekleidete Kleinbauern und ihre Ehefrauen mit geknoteten Kopftüchern Hintern an Hintern auf aufgestellten Sitzbrettern hockten. Es war so eng, dass die Stirn jeweils gegen den vorderen Rücken stieß, wenn man vom Heiligen Geist ergriffen wurde und anfing, sich beim Gebetsmurmeln zu wiegen. Dazwischen eingeklemmt hatte Isak gesessen, ein schmächtiger Junge zwischen den Onkeln beider Familien, die sich vor seinen Augen verwandelten. Sie begannen tiefer zu atmen, die Luft wurde schwer und feucht, sie bekamen purpurrote Gesichter, ihre Brillen beschlugen, ihre Nasen begannen zu tropfen, während die Stimmen der beiden Prediger immer lauter im Gesang erklangen. Diese Worte, diese lebendigen Worte, die die echte Wahrheit Faden für Faden weiterspannen, Bilder des Bösen, des Verrats, von Sünden, die gern in der Erde verborgen bleiben wollten, die aber mit ihren faulen Wurzeln herausgezogen und vor der Gemeinde wie wurmstichige Rüben geschüttelt wurden. In der Reihe vor ihm saß ein Mädchen mit Zöpfen, mit blondem, goldenem Haar, in der Dunkelheit, von beiden Seiten von erwachsenen Körpern in dem Qualm zusammengepresst. Sie war still, sie hielt eine Puppe ans Herz gedrückt, während der Sturm von oben noch zunahm. Es war erschreckend, seine Eltern weinen zu sehen. Zusehen zu müssen, wie die erwachsenen klugen Verwandten verwandelt, zerschmettert wurden. Klein dazwischen zu sitzen und zu spüren, wie es auf einen tropfte, und

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