Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Gegenteil bewirkt.
In der Post angekommen, nahm er die gelben Plastikkisten mit den vorsortierten Briefen für sein Gebiet in Empfang und setzte sich hin, um eine eigene Ordnung, seiner Route gemäß, in die Sendungen zu bringen. Der dumpfe Schmerz in seinem Kopf verschwand nach und nach, die Konzentration auf die Briefe, Adressen, Straßennummern und Namen half ihm, sich zu zentrieren. Er hatte dabei den frischen Kaffee getrunken, den sie sich unter Kollegen morgens reihum brühten und die kurzen gedämpften Gespräche der anderen im Hintergrund wahrgenommen. Eine beruhigende Geräuschkulisse. Hier, im Postamt, in den frühen Morgenstunden, blieb jeder gerne für sich, man tauschte sich kurz und freundlich aus, aber den meisten steckte der Schlaf noch in den Knochen,und sie verzichteten auf allzu lebhaften Austausch. Der Umgangston jedoch war freundlich und kollegial; Stifter mochte außerdem die Menschenmischung, die sich hier in Lohdorf angesammelt hatte. Sie waren zehn Zusteller, von Mitte zwanzig bis Ende fünfzig. Ein Drittel alte Postler, zwei Drittel Gestrandete wie er. Studenten, die sich darüber finanzierten, eine junge alleinerziehende Mutter, ein »Jobsammler«, der in seinem Leben schon auf unzählige Arten sein Geld verdient hatte, auf jedem Fleckchen dieser Erde, und nun hier gelandet war. Alle zusammen waren sie das, was man eine bunte Truppe nannte. Fast zwei Stunden brauchte er für die Sortierarbeit, um halb acht schichtete er die Sendungen auf sein Rad, schwang das rechte Bein über den Sattel und startete in den warmen Sommermorgen.
*
Die Sommersonne stieg über Frankfurt empor und warf einen breiten hellen Pinselstrich auf den Küchentisch, als Beate Klinger das Frühstücksgeschirr abräumte. Julius hatte heute Morgen nicht die Ruhe für seine Zeitungslektüre gefunden, sondern war bereits mit Klaus unterwegs zu dessen Lehrstelle. Klaus hatte sich darauf gefreut, wie er sich jeden Morgen aufs Neue darauf freute, die Schlosserei zu betreten. Er lachte, wenn er seine Kollegen und seinen Meister traf, er lachte, wenn er die große und schwere Maschine anschmeißen und die kleinen Metallteile schleifen und polieren durfte. Auch sie waren froh gewesen, dass Klaus nach der Sonderschule, auf Vermittlung durch seine Betreuer, die Lehrstelle in dem integrativen Betrieb gefunden hatte. Solange die Förderung des Betriebes gesichert war und keine Kosten auf ihre kleineFamilie zukamen, würde Klaus dort bleiben und sein Lebtag Metallteile feilen und polieren dürfen. Er war fünfunddreißig. Sie hatte ihn erst spät bekommen, zu spät. Dass die Gefahr einer geistigen Behinderung bestand, hatte man ihnen früh gesagt, aber ein Abbruch wäre für sie nicht in Frage gekommen. Auch für Julius nicht. Sie liebten ihren Sohn, so, wie er war, und sie begriffen seine Defizite nicht mehr als solche. Julius hatte alles daran gesetzt, Klaus finanziell abzusichern, wenn er und Beate einmal nicht mehr waren, denn Klaus war außerstande, für sich selbst zu sorgen.
Umso tragischer war es jetzt, dass sie alles verloren hatten. Julius war volles Risiko gefahren, er hatte diesem Banker vertraut, so wie auch Gudrun und eine Handvoll anderer. Sie hatten nur das zurückgehalten, was sie zum Leben brauchten, und ein kleines bisschen Spargeld. Julius hatte neulich gesagt, dass das Spargeld gerade dafür reichen könnte, sich eine Zyankalikapsel in der Schweiz zu besorgen. Sie hatte lange nicht begriffen, was Julius damit gemeint hatte und für wen das Gift bestimmt sein sollte. Bis sie neulich Nacht gesehen hatte, wie Julius weinte. Wie er verzweifelt neben ihr im Bett lag, die Tränen waren ihm über die altersfleckigen, weichen Backen herabgelaufen, während er mit offenen Augen an die Decke starrte. Dann hatten seine Schultern gezuckt, er hatte eine Hand über den Mund gelegt, um sein immer heftiger werdendes Weinen zu unterdrücken, und schließlich hatte es ausgesehen wie ein epileptischer Anfall, so heftig hatte der Weinkrampf Julius geschüttelt. Es war ihr unmöglich gewesen, einzugreifen, ihn zu trösten. Fassungslos hatte sie der Verzweiflung ihres Mannes zugesehen und in einer Wiederholungsschleife gedacht: Es ist doch nur Geld, es ist doch nur Geld, es ist doch nur Geld. Irgendwann warenJulius die Augen zugefallen, er hatte heftig geschnarcht wegen der vom Rotz verstopften Nase, und sie hatte bis in die Morgenstunden neben ihm gelegen und ihn angesehen. Zum ersten Mal in ihrer fünfzigjährigen Ehe mit einem
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