Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
Nachfahrin derer von Rechlin, Lehnsherren von jeher, war geboren, um zu kämpfen. Und sie würde das, was sie rechtmäßig als ihren Besitz betrachtete, nicht Fremden kampflos überlassen. Schon gar keiner Bank würde sie es in den Rachen werfen.
3.
Der helle Kies knirschte unter seinen Gummisohlen, und Stifter war bei Schritt Nummer eintausendfünfunddreißig angelangt, als er den Fuchs sah. Auf der Stelle blieb er stehen und starrte angestrengt auf das kleine Rasenstück unter der Kastanie. Die Morgendämmerung war bereits angebrochen, das Licht changierte noch zwischen Dunkel- und Mittelblau, der Tag dräute hinter dem tiefen Ton der Nacht. Es war eine klare Sommernacht, und Stifter gelang es, auf der weiten Ebene der Felder mehr als nur Schemen zu erkennen. Der Fuchs schlich um die Holzbank am Baum herum, vermutlich auf der Suche nach Essensresten. Er hatte Stifter nicht bemerkt, und der bemühte sich, flach und geräuschlos zu atmen, damit er den scheuen Jäger nicht aufschreckte. Im Gegensatz zu den Tieren, die sich den Berliner Stadtraum eroberten und unempfindlich gegenüber menschlicher Anwesenheit waren, ließen sich die Wildtiere, die aus den umliegenden Wäldern kamen, nur selten von Menschen ertappen. Den Fuchs allerdings sah Stifter nicht zum ersten Mal. Er hatte ihn bereits an zwei anderen Morgen von ferne bemerkt, wie er am Waldrand umhergestrichen war, sich auf die Lauer gelegt hatte und dann pfeilschnell davongeschossen war, als er Stifter gewahr wurde. Auf der Bank, unter welcher der Fuchs – Stifter wollte glauben, dass es immer derselbe war – nun umherschnüffelte, trafen sich am Nachmittag die Rentnermit ihren Hunden. Sie schwatzten, tranken ein Bier, und manchmal brachte jemand noch eine Brotzeit mit. Nach den Resten von Leberkäs, Obatztem und Breze suchte das Tier nun, falls die Dohlen überhaupt etwas übriggelassen hatten. Jetzt reckte es den Kopf und hob eine Vorderpfote. Der Fuchs hatte den Menschen in seiner Nähe gewittert, blickte rasch zu Stifter und jagte dann über das Feld davon. Johannes Stifter atmete tief aus. Er ließ die Anspannung aus seinem Körper weichen, sog die weiche Luft, die sich über Nacht nicht wesentlich abgekühlt hatte, durch die Nase wieder ein und setzte seinen Weg in Richtung Hauptpost fort. Es war noch kaum jemand unterwegs um diese Zeit, Lohdorf schlief fest. Vereinzelt bog ein Auto aus einer Auffahrt oder überholte ihn ein Wagen auf der Straße. Der Briefträger war dankbar, dass der Tag noch nicht angebrochen war und sein sommerliches Gesicht zeigte, mit dem gleißenden Licht und der sengenden Hitze. Er hatte einen dicken Kopf. Drei Helle hatte er sich gestern genehmigt. Es war aber nicht die Menge, die ihm Kopfschmerzen bereitete, sondern vielmehr der Schlafmangel. Nachdem Noah sich abends von ihm verabschiedet hatte – sie hatten Brötzmann gehört und ein Englisch-Referat vorbereitet –, hatte er in Windeseile das Bier in sich hineingeschüttet, in der Hoffnung, die Bilder, die ihn seit dem späten Vormittag verfolgt hatten, aus dem Kopf zu tilgen. Aber es war ihm nicht gelungen, selbst in den wenigen Stunden unruhigen Schlafs waren sie ihm immer wieder erschienen. Annette und Gudrun von Rechlin. Die keifende Alte, das Erbrochene auf dem weißen Seidenpullover der Tochter, die dunkle Villa, der Kellergeruch. Als Stifter das Haus der adeligen Damen verlassen hatte, war er voll Entsetzen gewesen. Immer und immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie Mutterund Tochter in dem als Villa getarnten Bunker zusammenleben mochten. Sie schienen in einer Verzweiflung aneinandergekettet, die jeden Menschen und alles Leben außerhalb ausschloss. Er war versehentlich eingedrungen und hatte etwas Verbotenes gesehen. Das Elend hinter den luxuriösen Mauern. Den Abgrund. Nachher würde er erneut dort klingeln, um das Einschreiben an Annette abzugeben. In welchem Zustand würde sie ihm die Tür öffnen? Noch immer machte Stifter sich Vorwürfe, dass er sich von der Mutter hatte wegschicken lassen. Hatte die Androhung einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch ihn dazu verleitet zu gehen? Oder war es nicht vielmehr die Scheu davor, sich mit dem traurigen Leben der beiden Frauen auseinanderzusetzen? Stifter fand, dass er versagt hatte. Er hatte Annette von Rechlin nicht geholfen. Er hatte sie ihrer Mutter überlassen, die augenscheinlich nur Verachtung für die eigene Tochter übriggehabt hatte. Die drei Biere hatten das Gefühl des Versagens nicht vertrieben, eher das
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