Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
und sammelte seine geistigen Kräfte. Das hatte er in Japan gelernt, Geschäftskunden hatten ihn zu einem Seminar mitgenommen, wo sie lernten, noch effektiver zu arbeiten ohne Auszeiten, einfach durch die geistige Fähigkeit zur absoluten Konzentration und Sammlung. Er liebte dieses Ritual. Er machte es bei Sonnenaufgang entweder am Fenster seines Büros, von dem er einen gigantischen Blick auf das Bankenviertel hatte, oder auf der Dachterrasse seines Appartements, wenn er zu Hause arbeitete. Er würde so seine Energie bündeln für die Stunde der Vergeltung.
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Stifter hatte seine Kaffeepause in der Bäckerei am Novalisplatz beendet und fuhr in Richtung Wettersteinstraße. Er dachte darüber nach, wie er Annette von Rechlin am besten auf den gestrigen Vorfall ansprechen könnte. Oder sollte er gar nichts sagen? Vielleicht war es besser, dezent darüber hinwegzugehen? Vorausgesetzt, sie war heute überhaupt schon in der Verfassung, sich mit ihm zu unterhalten.
Stifter war in Gedanken so sehr mit der Übergabe des Einschreibens beschäftigt, dass er grußlos an Herrn Hiemer vorbeifuhr, der in seinem Garten auf der Leiter stand und Mirabellen von seinem Baum erntete. Herr Hiemer war ein alleinstehender, sehr rüstiger Rentner, der stolz darauf war, dass er den besten Gartenkompost der Villensiedlung hatte. Zum Beweis, welche großartige Früchte auf der Grundlage seiner Kompostdüngung wuchsen, bot er Stifter über den Zaun hinweg stets Kostproben an, wenn er ihn sah: Stachel- und Johannisbeeren, Himbeeren und Brombeeren, verschiedene Pflaumensorten und jetzt, im September, würden Äpfel, Birnen und Quitten folgen. Aber heute ließ Stifter Hiemers Obstparadies links liegen und steuerte zielstrebig auf das Rechlinsche Anwesen zu. Ein Haus zuvor hielt er sich umständlich damit auf, seine Sendungen umzuschichten, damit das Rad auf beiden Seiten gleichermaßen bepackt war, als sein Blick auf die Alte im Nerzmantel fiel. Er hatte sie schon mehrmals hier oben herumstreifen sehen, aber noch nie war er ihr so nah gekommen. Er betrachtete sie neugierig und versuchte gleichzeitig, sich sein unziemliches Interesse nicht anmerken zu lassen. Die Frau war mager und ihr ehemals schönes Gesicht von senkrechten Falten durchzogen, dünn wie Fadennudeln. Die Falten mündeten ein Stück unter dem Mund in einen Seidenjabot, ehemals vielleicht cremefarben, heuteschmutzig grau. Darüber trug die Alte einen ausladenden Nerzmantel, reich gefältelt, der knapp bis zum Boden reichte. Unter dem Saum kamen schwarze Soldatenschnürstiefel zum Vorschein, deren Sohlen vollständig heruntergelaufen waren. Die unzähligen, prallgefüllten und zum Teil zerrissenen Plastiktüten, welche die Frau in beiden Händen trug, wiesen sie als Obdachlose aus. Dennoch hielt sie sich aufrecht, ihren Kopf trug die Dame erhoben, ihr Kreuz schien durchgedrückt. Auf dem Kopf hatte sie einen dunkelroten Stoffturban, der in der Mode der Vierziger gebunden war. Sie wirkte wie eine aus der Zeit gefallene Trümmerfrau. Stifter gelang es nicht, seinen Blick von ihr abzuwenden, aber sie wiederum würdigte ihn keines Blickes. Stolz warf sie mit klaren Augen prüfende Blicke in die Gärten, an denen sie langsam vorüberging. Als sie das Grundstück, welches dem der von Rechlins genau gegenüberlag, erreicht hatte, stellte sie die Tüten ab, griff zielgerichtet nach einem Zweig des Pflaumenbaumes, der fast über den Zaun ragte und pflückte mit flinken und geübten Fingern die reifen Pflaumen ab. Rasch ließ sie diese in einer der Tüten verschwinden, und erst als sie alle Früchte, die sie erreichen konnte, geerntet hatte, packte sie ihr Marschgepäck und zog weiter. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, aber der verdutzte Johannes Stifter bildete sich ein, dass ihre Mundwinkel von einem Hauch triumphalen Lächelns umspielt wurden.
Er schob sein Fahrrad ein Haus weiter und klingelte bei Annette von Rechlin.
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Vom Fenster ihres Bades im ersten Stock hatte sie Edeltraud beobachtet. Wie sie Pflaumen bei Jägers geklaut hatte. Geklaut!Gudrun von Rechlin nahm sich vor, ihre Gemüsebeete noch besser gegen Blicke von außen zu schützen. Edeltraud hatte Adleraugen, und sie würde nicht zögern, ihre Beete abzuräumen, wenn sie wüsste, dass Gudrun sich in ihrem Garten selbst versorgte. Gudrun zog die Spülung und wusch sich die Hände, da sah sie, dass der Briefträger bei ihnen klingelte. In der Hand hatte er dieses vermaledeite Einschreiben für Annette, und sie musste sich
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