Postbote Stifter ermittelt 02 - Oberland
beeilen, um zu verhindern, dass ihre Tochter alleine mit dem Kerl sprach. Er würde bestimmt neugierig werden und Konversation machen wollen. Das musste sie um jeden Preis verhindern. Leider Gottes kam sie die Treppe nicht so schnell herunter, wie es erforderlich gewesen wäre, und als sie auf dem halben Absatz war, hörte Gudrun zu ihrem Entsetzen, dass Annette die Tür geöffnet hatte und dem Briefträger freundlich entgegenkam. Hastig nahm Gudrun von Rechlin die letzten Stufen, als sie bereits hörte, wie der Briefträger ihre Tochter begrüßte.
»Guten Morgen.«
»Hallo«, hörte Gudrun Annette antworten, da war sie auch schon zur Tür hinaus. Der Briefträger sah sie an, und sein Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. Aber das war ihr nun wirklich egal. Der mochte denken, was er wollte, er war eine Kakerlake für sie. Annette warf ihrer Mutter über die Schulter einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an den Postboten.
»Das Einschreiben ist für Sie«, sagte dieser gerade und streckte Annette eine Quittung hin, die sie unterschreiben sollte. »Persönlich«, fügte er mit einem grimmigen Blick auf Gudrun hinzu. Verzieh dich bloß, dachte die und stellte sich neben ihre Tochter.
»Mama, ist schon gut. Ich schaff das auch alleine.« Annette war gereizt, das konnte Gudrun deutlich spüren, aber auch das war ihr gleichgültig. Sie musste das Schreiben in die Finger bekommen, bevor diese dämliche Nuss es würde öffnen können.
Annette wandte sich wieder an den Briefträger, der seinerseits Gudrun von Rechlin nicht aus den Augen ließ.
»Darf ich fragen, von wem die Sendung ist?«, fragte Annette. »Ich erwarte nämlich nichts. Und ein Einschreiben, na ja, das ist ja immer etwas …« Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen und scheute sich, das »unangenehm« auszusprechen. Stifter konnte sie verstehen. Die Einschreiben, die er in seinem Leben bekommen hatte, waren die Einberufung zur Bundeswehr und die Einladung zur Testamentseröffnung seines Vaters. Und er wusste aus täglicher Erfahrung, dass die Überbringung von Einschreiben selten mit Jubelschreien quittiert wurde.
Er sah auf den Umschlag, obwohl er die Antwort bereits kannte, so oft hatte er den Absender gelesen. »Vom Amtsgericht München.«
Annette von Rechlin sah den Briefträger ratlos an, aber Gudrun ahnte, welchen Inhalts das Schreiben war. Sie konnte kaum an sich halten, dem nervigen Postboten den Umschlag aus der Hand zu reißen.
»Unterschreib endlich«, raunzte sie ihre Tochter an. Der impertinente Mann zog die Brauen zusammen. Als wenn ihn das was anging, wie sie mit ihrer Tochter redete.
Annette nahm den Stift, den der Mann ihr hinhielt, und unterschrieb. Gudruns Hand zuckte nach dem Umschlag, aber ihre Tochter presste diesen an sich und sah den Postboten an.
»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte der, und Gudrun begann, den Mann zu hassen. Es war ein Fehler gewesen, ihn ins Haus zu lassen, er war ein Eindringling. Ihre blöde Tochter war so empfänglich für jede Form der Zuwendung und des Interesses, und wenn der Typ hier anfing, sich zu kümmern, würde diese dusselige Kuh jeden Morgen aus dem Haus laufen, wenn er seine Post einschmiss, und ein Gespräch anfangen! Gudrun wusste, sie musste auf der Hut sein.
»Geh endlich ins Haus!«, herrschte sie ihre Tochter an, aber diese reagierte gar nicht auf sie. Stattdessen sah sie den Mann von der Post an und lächelte.
»Besser. Danke, dass Sie fragen. Es tut mir so leid, dass Sie gestern … Das ist mir sehr unangenehm.«
»Nein«, erwiderte der aufdringliche Mensch, »mir tut es leid. Ich hätte einen Arzt holen sollen.«
Gudrun zog Annette am Arm. Diese hatte verschämt die Augen niedergeschlagen und trat tatsächlich einen Schritt zurück.
»Es war nicht so schlimm, wie es vielleicht aussah. Sie sehen ja, ich lebe noch.« Ihre Tochter versuchte ein dämliches kleines Lachen.
»Zum Glück. Jedenfalls – wenn Sie mal Hilfe brauchen …«
Gudrun fand, es sei Zeit, dazwischenzugehen. »Sicher nicht. Sie haben genug geholfen, auf Wiedersehen.« Energisch zog sie an ihrer Tochter, die dem Postboten zunickte und sich dann ins Haus schieben ließ. Der Mann sah ihnen beiden neugierig nach, und Gudrun konnte es kaum erwarten, hinter sich und Annette die Tür zuzuknallen.
»Mama, was soll das? Ich bin kein Teenager! Du hast dich unmöglich benommen!« Annette war wütend.
»Wer von uns benimmt sich unmöglich?«, schoss Gudrun von Rechlin zurück. »Du wirst von
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