Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
Vom Netzwerk:
Spitzen.
    Er trifft auf ein paar Landschaftsmerkmale, die unverändert geblieben sind, seitdem er vor langer Zeit auf dieser Straße gefahren ist. Durch die rosafarbenen Felsen, durch die verkrüppelten Eichen braust der Wind, Kraniche erheben sich kreischend aus dem Sumpf. Im Morgenlicht wird der Himmel lebendig vor Vögeln. Er erinnert sich an den Geruch von Höhlen durchlöcherten Gesteins. Ein Fuchs läuft über das Grasgeflecht.
    Er nimmt die Abzweigung, die am Fuß der Felswand entlangführt. Die alte Karre rumpelt voran. Der schmierige Stein ist von winzigen stockendengroßen Löchern durchbohrt. Reisende haben ihre Namen in Großbuchstaben und mit schnörkelreichen Et-Zeichen in den Stein gekratzt. Die Daten fluten an ihm vorbei: 4. Juli 1938, 1862, 1932, 1876, 1901, 1869, 1937.
    Die Felswand wird dunkler. In grellen Farben springen Wörter aus dem Gestein: »Drei-Königs-Schule 67«, »Bobby liebt Nita«, »Jesus wird kommen«, »Fedora«, »Schreibe Belerophon«. Fasane fliegen über den Wagen, ziehen lange Schwanzfedern nach. Am Feldrand verfallene Farmhäuser, schiefergraue Gebäude, schwach und zum Sterben bereit. Das Land wogt, kriecht in großen Wellen dahin. Dornengestrüpp staut sich an den Zäunen. FEDORA-SEE. BEQUEME BETTEN. WENN SIE EINE NACHT GUT SCHLAFEN WOLLEN, KOMMEN SIE INS CUCKLEBURRMOTEL. SCHICKEN SIE $ 60 FÜR DAS KOMPLETTE ANGEBOT.
    Jetzt sieht er Pferde, die verdammt schönen Pferde, die er nie reiten konnte. Indianergesang aus dem Rosebud-Reservat, Gesang wie das Heulen des Windes. Die Stimme der Ansagerin, heiser, schnell. »Und das für Johnny White-Eyes, der 1980 starb, er wäre heute zweiunddreißig geworden, seine Mutter und alle übrigen wünschen sich ›Ich bin stolz, ein Amerikaner zu sein‹.«
    Und als er anhält und aussteigt, tost die Stille.
    Er hat vor, nach Osten zu fahren, überquert den Missouri aber nicht. Statt dessen wendet er sich nach Westnordwest, folgt dem rücksichtslosen Instinkt alter Männer. Was spielt es schon für eine Rolle?
    Kommt nach Marcelito, Kalifornien, stellt sich im Stars & Moon an die Bar und erzählt ihnen von den wahren Uranzeiten, von Bullet Wulff, dem die Gegenwart fremd wäre, während im Dunkeln jemand seine Anhängerkupplung löst und sich mit dem alten Anhänger aus dem Staub macht. Da gehen sie dahin, die Fallen, das Buch des Indianers, die Hutsammlung, die Bratpfanne und das Blechgeschirr, das ewig lächelnde Gesicht von Hoot Gibson.
    Aber er hat immer noch den Wagen, durch dessen Farbe der Rost starrt. Abgebrannt, kaputt, treibt er zu den Obstgärten und Feldern, in den Strom.
    Der Strom der Wanderarbeiter fließt nach Norden und Osten, zurück nach Süden, dann nach Westen, teilt sich und macht erneut kehrt, in ausgeleierten Bussen und klopfenden Cadillacs - zu Avocados, Orangen, Pfirsichen und krausen Salatköpfen, Bohnen wie Finger fremder Wesen, Kartoffeln, Rüben, haarigen, schmutzigen Rüben, Äpfeln, Pflaumen, Nektarinen, Trauben, Brokkoli, Kiwis, Mandarinen, Walnüssen, Mandeln, Stachelbeeren, Boysenbeeren, Erdbeeren. Sandige Erdbeeren, sauer und rauh im Mund, aber so rot wie frisches Blut. Es ist leichter, in den Strom zu geraten, als wieder herauszukommen.

50
    Die Allereinzige

    Ray brauchte so lange zum Sterben, wollte das Leben so ungern aufgeben, daß Mernelle an Plastiktüten und Schlaftabletten dachte, daran, ihm den Sauerstoff abzustellen oder den Schlauch zusammenzudrücken, bis er loslassen mußte. Er zuckte in der zupackenden Hand des Todes wie eine ersaufende Katze in den um ihr Genick geklammerten Fingern eines Farmers, doch der Griff lockerte sich nicht. Der Krebs nagte in seinem Inneren, manchmal friedlich genug, um ihn lächeln, ein paar Sätze sagen zu lassen, während seine arglosen Augen auf sie geheftet waren, sein magerer Körper sich unter dem Laken ausstreckte. Sie stellte sich den Krebs in ihm vor, eine feuchte braune Masse wie die Nachgeburt einer Kuh, die sein Leben in ihres zog.
    Rays Arzt riet ihr, sich einer speziellen Gruppe anzuschließen. »Wie man mit dem Tod zurechtkommt.« Sie trafen sich in der Ärztekantine. Ein Raum mit dünnem Teppichboden, Stühle aus Ahornholz um einen langen Tisch aus Ahornholz. Eine Krankenschwester reichte ihr eine blaue Plastikmappe. Darin fand sie ein fotokopiertes Gedicht - »Das schwindende Licht« -, eine Liste von sieben Arten sterbender Menschen, einen Stapel Blätter mit praktischen Hinweisen zu Testamenten, Organspenden, Bestattungsunternehmern,

Weitere Kostenlose Bücher