Postkarten
Beerdigungskosten, Grabsteinmetzen, Krematorien, Listen mit Sanatorien und Pflegeheimen, Telefonnummern von Haushaltshilfen, ein Pamphlet »Zu Hause sterben«, ein Verzeichnis von Geistlichen, Rabbinern und Pfarrern, Ratschläge zur Auswahl des Friedhofs. Sie las die sieben Typen durch, suchte nach Ray. Der den Tod leugnet, der sich dem Tod unterwirft, der dem Tod trotzt, der den Tod überwindet. Das war Ray, der dem Tod trotzt.
Fünf andere am Tisch. Sieben leere Stühle. Eine mollige irische Krankenschwester, schwarz umrandete taubenblaue Augen. Die Schwester sagte, sie sei in Sterbetechniken ausgebildet. Ihre Stimme war sanft, langsam, die Stimme, die Mernelle mit Krebs assoziierte. Auf dem Namensschild stand »Moira Magoon staatl. gepr. KS«. Sie war rosig vor Vitalität. Die sechs um den Tisch trugen keine Namensschilder. Sie waren müde und schlaff, ihre Finger wiederholten sinnlose kleine Bewegungen. Das sei normal, sagte Moira; wenn man neben jemandem sitze, den man liebe, ihm beim Sterben zusehe, sei das selbst ein Tod. Es würde ein Jahr dauern, darüber hinwegzukommen, einen vollen Kreislauf der dreizehn Monde, ehe... Ein erledigter Vater, dessen einzige Tochter in der folgenden Nacht sterben sollte, schrie: »Niemals!« und weinte dann vor ihnen unter geräuschvollem Schlucken und Räuspern.
Sie gingen die blaue Mappe durch. Moira Magoon erklärte wie jemand, der ein Rezept weitergibt, auf welche Weise man einem sterbenden Menschen half, Ray zum Beispiel, der nicht aufgeben wollte. Die dem Tod trotzten, seien am schwierigsten.
Mernelle hörte zu, nickte. Bei Moira Magoon hörte der Tod sich so vernünftig an, wie eine logische Entscheidung, die man treffen konnte. Die Entscheidung falle leichter, sobald die Lebenden ihre Zustimmung gaben. Sie sagte damit, daß Mernelle es sei, die Ray nicht sterben lassen wolle. Einfach ja sagen.
An jenem Abend setzte Mernelle sich zu Ray ans Bett. Er war schweißgebadet, halb bewußtlos von den Medikamenten und Opiaten. Sein Mund war weiß verkrustet, ausgedörrt. Das trockene Krankenhauszimmer. Sie nahm die dürre Hand, die zerstört war von blauen Flecken um Nadelstiche und entfärbten Fingernägeln, aufgezehrt zu einem Zelt aus Haut über Knochen wie Reisig.
»Ray, Ray«, sagte sie sanft. »Ray, es ist in Ordnung, wenn du losläßt. Ray, du kannst jetzt aufhören. Du kannst loslassen. Du brauchst nicht zu kämpfen, Ray. Laß einfach los. Es ist schon in Ordnung.« Sie sagte es oft, ihre Stimme sanft. Er atmete. Er kämpfte. Sie wollte das Fenster öffnen, aber es gab Motten. Sie konnte die sanfte Krebsstimme nicht länger durchhalten. Ihre eigene Stimme klang wie knirschendes Eisen, leise und rasch.
»Ray, laß jetzt das Kämpfen. Laß los, Ray. Ich meine es ernst! Es ist Zeit zum Aufhören, Ray.«
Er richtete sich auf. Seine Augen schwammen in dem durchscheinenden Gesicht. Er sah sie an, durch sie hindurch auf eine brodelnde Kindheitsszene, die Maschinerie des Geistes arbeitete hektisch, öffnete vergessene Schranktüren auf die Farbe eines glasierten Apfels, die Wut eines betrunkenen Vaters, den Hals eines Huhns, aus dem Blut spritzte, stürzende Holzstapel, den einsamen Geruch nahenden Regens. Er sah durch das Drahtgeflecht der Fliegentür auf das Mädchen, das ihm den schlanken Rücken zukehrte, die bloßen Arme, in dem Viereck aus Sonnenlicht auf dem Boden sein eigener Schatten.
»Zu schade, daß wir das nie getan haben«, sagte er und starb.
51
Der Kojote mit dem roten Hemd
Die Pappeln regten sich nicht, das Laub hing so schlaff, als wären die Wurzeln gekappt. In dem zum Windschutz angelegten Wäldchen hinter dem Haus stürzten sich die Krähen auf etwas, kurze, harte Krächzer zerrissen die Luft.
»Irgendwelche Essensreste«, sagte die Frau und spuckte die Worte aus wie eine Handvoll Korn, kratzte und kratzte mit der abgebrochenen Klinge eines Klappmessers am Dreck hinter dem Wasserrohr.
»Wie lang willst du denn noch da rumkratzen?«
»Rumkratzen? Ich bräuchte nicht rumzukratzen, wenn du was gegen das verrottete Linoleum unternehmen würdest. Es stinkt und ist so verklebt, daß ich’s nicht sauber kriege. Ich geb’s auf«, sagte sie, warf das Messer hin und ging auf die Veranda.
Er hörte sie draußen schniefen und schnauben. Sie forderte es heraus. Seine Hände zitterten.
Er hätte hinausgehen und ihr ein, zwei Tritte versetzen können, aber nach ein paar Minuten kam sie zurück.
»Da kommt grade jemand durchs Tor, so’n alter Penner.
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