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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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ins Gesicht, als wollte er sehen, ob sie es kapierten. Zählte die Punkte an rissigen Fingern ab.
    »Eine wolkenreiche Gegend geht nicht. Also zweitens, der Himmel muß die meisten Nächte klar sein. Hier gibt’s zwar Dunkelheit, aber auch wolkige Nächte. Und wenn es keine Wolken gibt, versteht ihr, dann muß auch noch die Atmosphäre konstant sein. Die Luft ist wie ein Fluß, wie Tausende von Flüssen übereinander, und wie die Strömungen dieser Luftflüsse verlaufen, ob ruhig oder unstet, hängt davon ab, wie der Boden unten geformt ist.« Er konnte Ben hören, wie er ihm eines Nachts in den Bergen davon erzählt hatte. »Versteht ihr, es ist wie mit Steinen in einem Fluß. Hügel und Canyons, Täler und Berge machen die Luft über uns unstet. Wie Steine in einem Fluß das Wasser unstet machen. Je mehr Steine in einem Fluß, um so unruhiger wird das Wasser. Und ihr geht in euer Observatorium, das in den Bergen steht, sagen wir hier, und wollt euch die Sterne ansehen, und alles blinkt und verschwimmt, und ihr könnt nicht einmal Hundescheiße auf einem Teller sehen. Ein Observatorium auf dem Gipfel eines alleinstehenden Berges ist besser. Noch besser ist es, wenn der Berg auf einer Insel oder an der Küste steht. Die Luft wird ruhiger, wenn sie über Wasser fließt. Ach, man muß viel wissen«, sagte er und blickte Kosti in die Augen. »Hab’ mit dem Erzählen noch nicht mal angefangen. Ich hab’s erlebt, wie’s noch schön war. Wir kommen ein andermal darauf zurück. Ich muß meiner Hündin den Verband am Rücken wechseln.«
    Paula sprach mit der traurigen Stimme, die sie für weinende Babys und Gespräche mit ihren nervigen Schwestern benutzte.
    Sie zog die Vokale der Wörter in die Länge, als würde sie trauern. »Armes altes Ding, was hat sie denn?«
    »Ich glaube, sie hat sich mit einem von denen angelegt, die früher mein Winterverdienst waren. Hört ihr das?« Draußen unter dem flackernden Sternenlicht rief ein Rudel Kojoten mit hohen, kurzen Schreien, wie die Schreie von Hühnern, die nach Salatblättern rennen. Paula lehnte sich an Kosti. Vom Hügel jenseits der Straße stieg ein selten gehörter dünner Ton auf.
    »Das war früher das Geld, mit dem ich wegkonnte«, sagte der Mann mit dem Hut. »Ach, die Pelzpreise waren mal gut. Sie gehen vermutlich wieder rauf. Vielleicht diese Saison. Vielleicht probier’ ich’s hier in der Gegend. Vielleicht gehe ich diesen Winter ein bißchen Fallen stellen, vielleicht mach’ ich genug Geld, um weiterziehen zu können. Fallenstellen hat früher gutes Geld gebracht. Aber es ist schwer. Ein schweres Leben.«
    Paulas Miene war abweisend. Sie dachte an unschuldige Tiere, die grausam aufgespießt waren, die Mäuler trocken vor Angst, während dieser alte Mann mit den harten blauen Augen auf sie zukroch, redete, redete, aber einen blutverschmierten Stock dabeihatte.
    Aber er war schon wieder bei neuen Geschichten, einer Schürfergeschichte. Im Dunkeln trat er mit bloßen Füßen auf eine Klapperschlange, sprang in die Luft und landete wieder auf der Schlange. Sie wollte nicht, daß er die Geschichte von den Wildenten erzählte, die über eine Schnur in ihren Gedärmen miteinander verknotet waren, so daß sie aneinander rissen und die Schnur an wundem Gewebe scheuerte, oder die von dem Rudel Ratten, die lebendig ins Lagerfeuer geworfen wurden.
     
    Kosti und Paula rollten sich im gelben Kerosinlicht auf ihrem Futon zusammen, spielten Handspinne. »Krabbel, krabbel, krabbel«, flüsterte Kosti und dachte, daß Paula ziemlich reif roch, nach verbranntem Käse und Stinktier, aber sobald sie seinen Harkenstiel in die Hand nahm, stellte seine Nase den Dienst ein.
    »Ich hoffe, du wirst nicht so redselig, wenn du alt wirst.« Sie pustete ihm ins Ohr.
    »In meiner Familie sterben die Männer jung. Du wirst nie erfahren, was für Geschichten ich mir womöglich ausgedacht habe. Große Elchjagden! Bergwerksunglücke!« Sie lachten, aber der Gedanke an das quasselige, geschwätzige Alter des Mannes mit dem Hut trieb sie in eine Raserei aus Küssen und Aneinanderschlagen federnder Beckenknochen.

49
    Was ich sehe
    Er ist nicht sicher, wo er ist. So viele Straßen gleichen einander, die immer gleichen Schilder, der gelbe Streifen bis zum Horizont. Die gleichen Autos und Lastwagen wiederholen sich immer wieder. Aber am frühen Morgen, wenn er nicht vom Verkehr bedrängt wird, findet er einen Weg zu den Seitenstraßen, wo er Eschenahorn sieht, Sumachknospen mit grünen

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