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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Ledermantel steht da, bettelt, ruft, mit einer Wassermokassinschlange um den Hals, sein Mund signalisiert Versprechungen. Ein Schwertfarn im Fenster. Ein Sofa auf der Veranda. Eine Zeitung auf dem Sofa. Ein Mann, der in einem schwarzen Schattenstreifen unter einem Traktor schläft. U. S. POST OFFICE. Kauft Kerns Brot. Schwarze Eichen, graue Hickorybäume, schwarze Walnußbäume, schwarze Ahornbäume, Schusserbäume, hochwachsende Brombeeren, Appalachenkirschbäume, Chinquapineichen, Moos, wilder Wein, Wacholder, graue Kiefern, ein Grabhügel in Vogelform, Zypressen, Rottannen, Balsamtannen, nordamerikanische Lärchen, Präriehühner, Saatklee. Eine Kuh, die in einem Meer aus Gras liegt wie ein schwarzes Wikingerboot, ein Tisch mit weißem Tischtuch unter einem Apfelbaum und am Tisch ein Mann ohne Hemd mit einem Gesicht wie aus Mahagoni und weicher weißer Brust.
    In einem Gasthaus die gestrichenen Holztische, an jedem Platz eine Papierserviette, die Gabel auf der Serviette, links davon ein Löffel, ein Messer und ein leeres Wasserglas. Die schlichte Speisekarte wird von Salz- und Pfefferstreuern gehalten. Wolken in Form von Ameisenbärenzungen, von Habichtschwanzfedern, von Wischschlieren auf einer Schiefertafel, von erbrochenen Milchklumpen. Der Strahl einer Taschenlampe im Dunkeln. Nasse Felsblöcke an einem See-ufer.

10
    Das verschwundene Baby

    Mernelle war fast am Heidelbeersumpf angekommen, hatte gerade die ersten Büsche erreicht, roch die Säure des Ortes, die Sonne entlockte dem ledrigen Laub, den blauen Libellen und ihren eigenen Fußabdrücken im Schlamm Gerüche, als sie Jewell rufen hörte, zu leise, als daß sie die Worte hätte verstehen können, die klangen wie »Solo, Solo«, in die Länge gezogen und klagend.
    »Was?« schrie sie und lauschte. Nur ein leises »Solo« schwebte als langgezogener, hohler Ton zurück. Ihr Name konnte es nicht sein. Ihr Name klang, aus der Ferne gerufen, wie »Männel, Männel«. Sie stieg zwischen die Heidelbeersträucher und pflückte ein paar Beeren. Sie waren noch violett gefleckt und sauer. Sie blinzelte zum Himmel empor und erinnerte sich an den dämmerigen Bronzeton, den er während der Sonnenfinsternis vor einem Monat angenommen hatte, obwohl die Sonne sichtbar und weiß geblieben war. Sie war enttäuscht gewesen, hatte auf einen schwarzen Himmel mit einer flammenden Korona gehofft, die ein Loch in die Dunkelheit des Vormittags brennen sollte. Kein Glück in dieser Hinsicht. Der klagende Ruf ertönte wieder, und sie streifte ein paar Beeren und Blätter ab und kaute sie, während sie den Hügel zurück zum Haus erklomm. Erst am Zaun spuckte sie sie aus.
    Sie sah, daß Jewell unter dem Weichselkirschbaum im Garten stand, die weißen Arme hochgereckt, die Hände um den Mund gelegt, rief sie ein ums andere Mal. Als Mernelle in Sichtweite kam, winkte sie ihr, damit sie sich beeilte.
    »Der Krieg ist vorbei, Präsident Truman war im Radio, und ein Baby ist verschwunden. Ronnie Nipple kam gerade vorbei, um uns um Hilfe zu bitten. Es ist der Kleine von seiner Schwester Doris. Und Mink und Dub sind ausgerechnet jetzt unten bei Claunch und reden über den Verkauf von noch ein paar Kühen. Es bringt mich zum Wahnsinn, daß ich nicht fahren kann. Da steht das Auto, und wir müssen einfach dran vorbei-gehen. Doris ist für eine Woche zu Besuch. Heute ist der erste Tag, und gleich muß was passieren. Anscheinend haben sie alle so gespannt Radio gehört, daß die Japsen sich ergeben, und die Leute drehen vor Freude schier durch und tanzen und schreien, und keiner paßt auf den kleinen Jungen auf, er nukkelt noch an der Flasche, der kleine Rollo, erinnerst du dich, sie haben ihn letzten Sommer mal rübergebracht, wie er noch nicht gehen konnte, keiner hat ihn verschwinden sehen. Ronnie macht natürlich allen Vorwürfe, brüllt seine Schwester an: ›Warum hast du nicht auf ihn aufgepaßt?‹ Die zwei haben sich nie verstanden. Ich hab’ ihm gesagt, wir laufen los, sobald ich dich aus den Heidelbeeren geholt hab’, und er hat gesagt, wenn er uns auf dem Rückweg von den Davis sieht, nimmt er uns mit. Die Davis haben ein Telefon.«
    »Hurra, wir müssen kein Fett mehr sammeln und keine Blechbüchsen und Altkleider zur Kirche bringen. Aber sie brauchen wahrscheinlich auch keine Seidenpflanzensamen mehr.«
    »Das nehme ich an. Und die Benzinrationierung soll auch sofort aufhören, heißt es.«
    »Es hat nicht so geklungen, als ob du meinen Namen gerufen hast. Es hat ganz anders

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