Postkarten
band ihn ans Geländer der Verandatreppe. Der Hund schob die Schnauze unter die Stufen und schnüffelte, als röche er einen seltenen Duft. Mernelle ging zum Stall hinüber.
Doris war oben auf dem Heuboden und sagte: »Rollo, komm zu Mami, Herzchen.« Mernelle begriff nicht, wie ein Baby die glatten, abgenutzten Sprossen der steilen Leiter hätte hinaufklettern können. Sie schaute in sämtliche dunklen Viehverschläge, sah, wo Doris in dem verfilzten Heu gewühlt hatte, suchte unter dem Tisch im Milchraum, im alten Sattelraum und den von Spinnweben bedeckten Pferdeverschlägen. In die Pfosten davor waren die Namen WAXY und PRINCE geschnitzt. Doris’ Schritte über ihr wanderten von Ecken zu schmalen Schränken und bis zu dem Schacht, durch den das Heu herunterkam. Ihre düstere Raserei erfüllte den Stall. Mernelle ging aus dem Stall und sah beim Misthaufen nach. Rollo konnte in die Brühe gefallen und im Kuhdung ertrunken sein. Dergleichen hatte sie schon gehört. Jewell kannte jemanden, dem es passiert war. Sie wappnete sich gegen den Anblick des blauen, baumelnden Kopfes, der verschmierten Arme. Aber dort tummelten sich nur Hühner. Vom Misthaufen aus konnte sie ihre Mutter und Mrs. Nipple zwischen den unbeschnittenen Obstbäumen beobachten, wie sie durchs Gras wateten und »Rollo, Rollo« riefen, mit schwermütigen, traurigen Stimmen.
Als Ronnies Auto, vollgepackt mit Männern in Arbeitskluft, auf den Hof fuhr, rannte Doris weinend hinaus und erzählte, daß das Baby noch immer verschwunden sei. Die Männer beredeten sich leise. Nach einer Weile schwärmten sie aus und gingen durch das gemähte Heufeld zur Quelle im Wald hinauf. Die Quelle, ein offener Teich, drei Meter im Durchmesser, weißer Sand auf dem Grund, eisiges Wasser, das aus dem Boden sprudelte. Doris, der das Wasser plötzlich einfiel, rannte ihnen nach.
Jewell und Mrs. Nipple kehrten aus dem zertrampelten Obstgarten zurück, und Mernelle folgte ihnen in die Sommerküche mit den Fliegengittern vor den Fenstern und dem Kerosinofen am Ende der Veranda. Ihre Arme waren voller Striemen vom scharfkantigen Gras. Mrs. Nipple pumpte jeder von ihnen ein Glas Wasser. Ein paar Tropfen fielen in das eiserne Spülbecken, verschmolzen mit ein paar glänzenden Tropfen Kerosin auf Mrs. Nipples Wischlappen.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und sah durchs Fenster Doris nach, die den Männern hinterherrannte, strauchelte, auf die Knie fiel, sich wieder aufrappelte und weiterstolperte. Und Ronnie, der sich wütend nach ihr umdrehte und ihr zurief, sie solle wegbleiben. Als ob Gewißheit schrecklicher wäre. »Wie soll er in den paar Minuten so weit gekommen sein?« Aus der Wasserpumpe kam ein dünner Klagelaut.
»Manchmal überraschen einen die Kleinen«, erwiderte Jewell. »Ich kann mich noch erinnern, wie Dub es zur Straße runter schaffte, während ich beim Eiereinsammeln war, und dabei konnte er noch nicht mal laufen. Kroch die ganze Strekke, anderthalb Kilometer. Dabei ist er auch geblieben.« Die Pumpe greinte in einem unheimlichen Jammerton.
»Was auf der Welt kann das sein«, sagte Mrs. Nipple und ließ das Glas überlaufen.
»Hört sich an, als würde was mit der Pumpe nicht stimmen.«
»So ein Geräusch hat die Pumpe mein Lebtag noch nicht gemacht«, sagte Mrs. Nipple. »Das ist das Baby, es ist unter der Sommerküche. Rollo, ROLLO«, rief sie in die Pumpenöffnung. Und ihr antwortete ein kollerndes Geheul.
Jewell schickte Mernelle zu Doris und den Männern, um ihnen auszurichten, daß sie das Baby unter dem Boden der Sommerküche in der Nähe der Wasserpumpe hören könnten, aber nicht wüßten, wie sie an es herankommen sollten. Den Boden aufreißen? Mrs. Nipple hockte unter dem Spülbecken und rief Aufmunterungen, während sie die Dielen mit einem Küchenmesser lockerte. Sie stand auf und ging um das Spülbecken herum bis zur Pumpe, wo die Wasserleitung von unten heraufkam und wo die Dielen unter dem verzogenen Linoleum so weich wie Käse waren. Auf dem geschwungenen, mattroten Pumpengriff stand KLEINER RIESE.
Jewell, die beobachtete, wie Mernelle mit der unheimlichen Kraft eines Kindes den Hügel hinauf zur Quelle rannte, hörte ein dumpfes Splittern und drehte sich um. Mrs. Nipple war zur Hälfte verschwunden, ein Bein bis zur Hüfte in dem verrotteten Boden versunken, das andere angewinkelt wie bei einem Grashüpfer, die Muskeln angespannt. Sie hing mit einer Hand am Spülbeckenrand, mit der anderen umklammerte sie das Messer. Von unten
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