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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Meeresfelsen. Der Indianer fing an zu singen.
    »Finden Sie das etwa lustig?« schrie Loyal. »Meinen Sie, das ist ein Grund zum Singen, wenn ein Mann ausgeraubt wird und sein Geld zurückzukriegen versucht?«
    »Ich singe das freundliche Lied. Es lautet: ›Der Himmel hört mich gern.‹ Ich will zum Himmel freundlich sein. Schauen Sie da rüber.« Er zeigte nach Südosten, wo der Himmel mit violetten Schwellungen übersät war, wie faule Flecken auf Pfirsichen. Loyal stieg aus dem Auto. Nach einem Augenblick stieg der Indianer, leise vor sich hin singend, ebenfalls aus. Espenlaub, grüne feuchte Seide, riß von den Bäumen. Der Indianer hob ein Büschel auf, rieb das frische Laub, so weich wie feinstes Handschuhleder, zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Während sie den Himmel betrachteten, nahm der Wind in logarithmischen Sprüngen zu. Die Wolken türmten sich auf, die Unterseiten gespickt mit melonenfleischfarbenen Kugeln. Ein Schauer aus Regen und Ästen prasselte nieder, und im Gras zuckte etwas mit zum Scheitern verurteilter Hartnäckigkeit. Es war eine verletzte Fledermaus, die mit ihren nadelartigen Zähnen knirschte. Hagel klatschte auf die Fledermaus, peitschte ihre Flügel und trommelte auf das Autodach, als würde jemand Kieselsteine schleudern.
    »Sehen Sie da«, sagte der Indianer und deutete. Aus der Wolke hing eine riesengroße Schnauze. Ohrenbetäubendes Donnergrollen. Die gelbe Luft war zum Ersticken.
    »Tornado«, sagte der Indianer. »Der Himmel hört mich gern«, grölte er. Die Schnauze schwankte wie ein loses Stück Tau und kam über die Landschaft auf sie zu.
     
    Ein untergehender Mond, so weiß wie ein neues Zehn-Cent-Stück, glänzte in Loyals Augen. Riesengroße Röstgabeln ragten bedrohlich über ihm auf. Er hörte das Gekreisch der nach Norden fliegenden Gänse. Er glaubte, auf der Farm zu sein, unter der Steinmauer eingequetscht, und streckte die Hand nach Billy aus, damit sie ihm half.
    Mit dem Morgenlicht kamen Leute. Sie hoben ihn auf eine Decke und legten ihn auf eine Matratze hinten auf einen Transporter. Jemand legte ihm eine Papiertüte auf die Brust. Auf dem Weg ins Krankenhaus, als der Fahrtwind kalt auf seine bloßen Füße einpeitschte, fing er an, unter Schmerzen die rechte Hand zu bewegen. Nach langer Zeit führte er sie an den Kopf und betastete die breiige Masse. Etwas lag in seiner linken Hand. Hart, glatt, wie das stumpfe Horn einer Kuh. Aber er brachte nicht die Kraft auf, es so hoch zu halten, daß er es sehen konnte. Die Bäume flackerten über ihm wie Flammen, und die Okarina fiel ihm aus der Hand.
    »Ein Tornado kann verrückte Sachen anstellen«, sagte der Arzt. Er beugte sich zu Loyal hinunter. Das kurze Haar stand in Stoppeln auf einem Kopf, der einem abgerundeten Kegel ähnelte, becherförmige Ohren. Ein häßlicher Kerl, aber die braunen Augen hinter den Kuhwimpern blickten freundlich. »Man erzählt von Strohhalmen, die zehn Zentimeter tief in eine Eiche getrieben werden, und von Häusern, die einen halben Meter verschoben werden, ohne daß eine Tasse zerbricht.
    In Ihrem Fall scheint er Ihr Auto mitgenommen und Ihnen ordentlich Schuhe und Strümpfe ausgezogen zu haben. Zum Glück waren Sie nicht im Auto. Wir werden vermutlich nie wissen, was genau Ihnen zugestoßen ist, aber Sie wurden sozusagen teilweise skalpiert.«
    Von dem Indianer keine Spur.

9
    Was ich sehe
    Loyal, der die Straße entlangfährt, die Schatten weißer Pappeln wie Seidenbänder im Wind; blasse Pferde auf der Weide, die dahintreiben wie Laub; eine Frau, durch ein Fenster gesehen, die Schürze gleitet über ihren Kopf nach unten, das Haarnetz verfängt sich in den Bändern, die Schürze verblichen blau, die Beine violett, Moskitostiche, keine Strümpfe, abgetragene Schuhe; der Mann im Hof, der ein Schild an einen Pfosten nagelt; KANNINCHENFLEISCH; eine Planke über den Potato Creek; ein Schuppen mit eingesunkenem Dach, die Tür mit einer schweren Kette verschlossen, weiße Kreuze, Windmühlen, Silos, Schweine, weiße Pappeln im Wind, das Laub, das beim Fahren vorbeiflattert. Ein Zaun. Noch mehr Zäune. Kilometer über Kilometer Zäune, Stacheldrahtzäune. Drei Mädchen am Waldrand, die Arme voller roter Wachslilien, an denen die herausgerissenen Zwiebeln baumeln. Sigurds Schlangengrube, ÜBER 100 LEBENDE SCHLANGEN BESICHTIGEN SIE DAS GILA-MONSTER 2 M ANAKONDA WASSERMOKASSINSCHLANGE PEIT-SCHENSCHLANGE WÜHLNATTERN RATTENSCHLANGE, und der alte Sigurd in einem langen, langen Overall und einem

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