Postkarten
geklungen.«
»Ich hab’ ›Rollo‹ geschrien. Dachte, wenn er so weit gekommen ist, dann steckt er vielleicht hier irgendwo im Gebüsch. Aber vermutlich nicht.«
»Ma, es sind drei Kilometer.« Die Bedeutung der Angelegenheit legte sich über den Nachmittag. Vielleicht mußte ein Baby verschwinden, damit der Krieg endete.
Sie gingen durch den Augustnachmittag. Der Gemeinde-Lkw hatte ein paar Tage zuvor frischen Kies auf die Straße gestreut, und die losen Steine und Splitter drückten schmerzhaft durch ihre dünnen Schuhsohlen. In der Ferne konnten sie das Tuten und Heulen von Sirenen, Hupen, Glocken hören, das Ballern von Gewehren, die auf den Farmen entlang des Hügelkamms in die Luft abgefeuert wurden, es klang, als würden Bretter auf einen Plankenhaufen fallen.
»Und dann haben sie im Radio noch gesagt, daß es in den Läden ziemlich bald wieder Nähmaschinen, Eimer und Scheren geben wird. Mir kann’s nicht schnell genug gehen. Ich hab’s leid, die Schere mit der kaputten Schneide zu benutzen, verdreht mir alles, was ich schneiden will.« Die Bienen summten in den Goldruten entlang der Zäune. Der Hund raste auf sie zu und holte sie schnell hechelnd ein, schleifte die Leine hinterher.
»Der elende Köter«, sagte Jewell. »Ich hab’ gedacht, ich hab’ ihn gut festgebunden.« In den staubigen Goldruten hing das Gefühl, zu spät zu kommen. In der Wiese das fortwährende Zirpen der Grillen. Grashalme ragten in die Luft wie Lanzen.
»Er kann uns helfen, das Baby zu suchen. Wie ein Bluthund. Ich halt’ ihn an der Leine fest.« Sie dachte an Rollo, der in den Goldruten verschwunden war, mit schwachen Kinderhändchen gegen die Stengel stieß, die Luft um ihn herum mit Bienen gespickt, oder tief im dämmrigen Wald, das Gesichtchen naß von hoffnungslosen Tränen, malte sich aus, wie der Hund am verwelkten Laub schnüffelte, dann vorwärts zerrte, als würde er Kaninchenwitterung aufnehmen, sie hinter sich herzog, heldenhaft das Baby fand. Sie würde es durch den Schneesturm zu seiner Mutter zurücktragen, der Hund würde neben ihr hochspringen, um dem Baby die Füße zu lecken, und sie würde sagen: »Na, da haben Sie Glück gehabt. Noch eine Stunde, und er wäre nicht mehr unter uns. Die Temperatur sinkt unter Null.« Und Doris würde dankbar weinen, und Mrs. Nipple würde in ihrem Eiergeld kramen und Mernelle zehn Dollar reichen und sagen: »Mein Enkel ist mir eine Million wert.«
»Ich kann nicht glauben, daß wir über diese Steine laufen, wenn ein fahrtüchtiges Auto auf unserem Hof steht, und ich kann’s nicht fahren. Mein Gott, ist das heiß. Lern du lieber Auto fahren, Mernelle, sobald du kannst, damit du nicht auf einer Farm versauerst. Ich wollt’ es vor Jahren schon lernen, aber dein Vater hat nein gesagt, will immer noch nichts davon wissen, nein, die Vorstellung, daß seine Frau mit’nem Auto rumfährt, paßt ihm nicht. Außerdem hatten wir damals einen Ford, den man mit’ner Kurbel anlassen mußte, und er hat gesagt, daß man sich schon beim Ankurbeln den Arm bricht.«
Die Abzweigung zu den Nipples war eben und hart, in der Mitte wuchs ein spärlicher Streifen Gras. Die Ahornbäume warfen einen luftlosen Schatten. Der alte Toot Nipple hatte die Bäume jeden März angezapft, aber Ronnie machte keinen Sirup und wollte sie demnächst als Feuerholz fällen. Wenn im Winter die Eisstürme große Äste abbrachen, schwor er, es bei der nächsten Gelegenheit zu tun. Und tat es nie.
»Ma, sag das mit dem Zählen, so wie dein Großvater immer gezählt hat.«
»Ach, die alte Geschichte. So hat er Schafe gezählt, die uralte Zählweise. Er hat die Schafe immer aufgezählt. Mal sehen, ob ich’s noch kann. Een. Zwee. Dree. Veer. Fiev. Seß. Söven. Acht. Negen. Teihn. Elm. Twalf. Darteihn. Veerteihn. Fievtaihn. Seßtaihn. Söventeihn. Achteihn. Negenteihn. Twintig. Bitte sehr! Mehr hab’ ich nie gekonnt. Bis zwanzig.«
»Söventeihn!« sagte Mernelle. »Söventeihn.« Sie fing wie immer zu lachen an. »Ach, Söventeihn!« Sie schrie vor Lachen.
»Halt«, sagte Jewell und lachte selbst, »halt. Weibliche Schafe nannte er nach der ersten Schur Eikes. Und wenn sie brünstig waren, sagte er, sie wären ›jaggdig‹. Er sagte …«
»Eikes!«
»Und Oma, seine Frau, hatte einen kerzengeraden Mund, der schenkte jemand mal eine Kiste Grapefruit. Sie wußte nicht, was das war. Hatte noch nie eine Grapefruit gesehen. Weißt du, was sie damit gemacht hat?«
»Hat sie Söventeihn und Eikes
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