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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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letzten Stunde Schlaf geweckt. Er döste auf dem warmen Kissen, nicht willens, ganz wach zu werden, und versuchte das Geräusch durch den Traumschleier zu bestimmen. Es war, als würde jemand schnarchen oder im Schlaf reden, Laute einer erstickten Stimme, ein unaufhaltbares Fallen des Fleisches, dann das Plätschern von Flüssigkeit, begleitet von dumpfem Pochen und dem hohlen Geklapper der Wasserrohre. Beeman Zick hatte das Wasserrohrlied schon einmal gehört. Er sprang aus dem Bett und starrte den alten Farmer an, der sich in der Schlinge aus seinem Hemdsärmel wand, das an die Wasserrohre gebundene Hemd, die an den Wänden scharrenden bloßen Füße, die von Urin nassen Beine.
    »Wachmann!« brüllte Beeman Zick. »Hier tanzt einer.« Aber bis sie den alten Knaben abschnitten, war der Tanz vorbei.
     
    Mit einer Aktentasche aus Kunstleder, die an sein Bein schlug, den Oberkörper in ein enges kariertes Jackett gezwängt, den Kopf nach links, rechts, links wiegend, kam Ronnie Nipple den Maiweg herauf. Auf der Einfahrt kühlte sein staubiger blauer Fleetline Aerosedan ab. Die Baumfrösche plärrten unten im Sumpf, und noch in der geschlossenen Küche trommelten ihre erbarmungslosen Triller auf jedes Wort ein.
    »Jewell, Mernelle. Es ist eine traurige Zeit, aber das Leben geht weiter«, sagte er in einem schrecklich sanftmütigen Tonfall. Der Fleck auf seinem Kinn leuchtete.
    »Red nicht wie ein Bestattungsunternehmer, Ronnie. Ich hab’ genug davon. Das Leben geht nicht weiter, nicht wie es früher war. Wir brauchen einfach Hilfe, um diesen Saustall in Ordnung zu bringen. Die Leute von der Versicherung und von der Bank kommen jeden Tag. Er hat uns eine schöne Suppe eingebrockt. Kein Geld, kein Zuhause, die Jungen fort. Früher war’s so, daß die Jungen irgendwo in der Nähe eine Farm aufgebaut haben. Wenn die Jungen damit angefangen haben, haben die Alten sie unterstützt. Aber jetzt. Wenn du uns nicht hilfst, einen Ausweg zu finden, weiß ich nicht, was ich tun soll.« Sie schniefte und weinte ein wenig gegen das lästige Sumpfgetriller an. Die Hände gefaltet. Der Ehering war abgenutzt und so dünn wie ein Draht. »Ach, ich weiß nicht. Als ich noch klein war, da gab’s so viele Tanten und Onkel, Vettern, Schwiegerleute, Vettern zweiten Grades. Alle lebten sie gleich in der Umgebung. Sie wär’n jetzt hier, die große Familie, wenn’s noch wie damals wär’. Die Männer bauten Tische aus Brettern. Jede Frau brachte was mit, was, war egal, Kekse, Brathähnchen, Pasteten, Kartoffelsalat, Obstkuchen, sie brachten die Sachen mit, ob es ein Familientreffen, ein Kirchenpicknick oder unglückliche Zeiten waren. Die Kinder rannten rum, lachten, ich weiß noch, wie die Mütter beim Begräbnis von meinem Bruder Marvin versucht haben, sie zum Stillsein zu bringen, aber sie war’n nur für’nen Augenblick ruhig und haben gleich wieder angefangen. Und jetzt sitzen wir drei hier. Und das ist alles.«
    Mernelle saß da und schaukelte verträumt, schaute aus dem Fenster auf die verkohlten Stallfundamente. Sie nahm an dem Gespräch nicht teil. Aus dem Loch war bereits Feuerkraut gesprossen. Das Getriller war zum Verrücktwerden. Das Unkraut schoß in die Höhe, Malven, Kresse, Hundsranken und Stinkkrampe. Der Berberitzenbusch neben dem Grab des alten Hundes in grämlicher Blüte, die Insekten kneifwütig und zappelig.
    »Jewell, du warst immer eine gute Freundin für meine Mutter, wenn sie dich gebraucht hat. Und du weißt, was ich meine. Ich kenn’ nicht die ganze Geschichte von der Sache, als Dad das Zeitliche segnete, aber sie hat’ne ganze Menge erzählt. Und ich werd’ dir und Mernelle ein Freund sein.« Seine Stimme schleppte sich dahin. Er saß am Tisch, die Papiere auf dem abgenutzten Wachstuch ausgebreitet wie auf dem Meer treibende Boote, das braune Küchenlicht rieselte auf seine Hände.
    »Ich hab’ mir in all den Stunden, die sie und ich hier am Tisch geplaudert haben, nie träumen lassen, daß wir in der gleichen Patsche sitzen würden. Deine Mutter war eine anständige Frau und eine gute Seele. Wenn jemand krank war, ist sie sofort gekommen und hat geholfen. Hat’s Essen gekocht, die Wäsche erledigt. Ich hab’ mir in den vergangenen Wochen oft gedacht, wenn sie da wär’, sie wüßte, was ich durchmache.« Dachte, daß Toot wie auch Mink in Schande gestorben waren. Auch wenn die Schande jeweils einen anderen Ursprung hatte. Sie spürte wieder diesen Anflug von Neugier auf ihren eigenen Tod, der sie

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