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Postkarten

Titel: Postkarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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frühmorgens befiel, eine nahezu begierige Bereitschaft, darüber nachzudenken, welche Gestalt er wohl annehmen würde, ein Anflug, der kam und ging wie ein Muskelzucken.
    »Also, ich hab’ mir Gedanken gemacht, und ich hab’, glaub’ ich, eine Möglichkeit, dich aus dem Sumpf zu ziehen. Das Problem wird freilich sein, nicht wieder reinzufallen.«
    »Ronnie, du bist wirklich ein anständiger Nachbar.«
    Mernelle schnitt zum Fenster hin eine Grimasse, blinzelte, zog ihren Mund in spöttischer Demut breit, so daß die oberen Schneidezähne über die Unterlippe ragten. Die Baumfrösche schrillten. Blitzende blaue Binsenlilien, betäubender Fliederduft.
    »Es ist kompliziert, und es wird nicht leicht für dich werden. Die Farm muß in drei Parzellen aufgeteilt werden. Ich habe zwei Käufer, und es ist mir gelungen, für dich das Haus und ein paar Quadratmeter für einen Garten zu retten.« Er zeichnete auf die Rückseite eines Umschlags. Die Farm nahm die Gestalt einer Hose an, bei der jedes Bein ein Teil des Grundstücks war. Sein Kugelschreiber stach die Demarkationslinien ins Papier. »Ein Stück des Obstgartens, damit du weiterhin deine Kuchen und deine Apfelsoße machen kannst. Ott bietet für die Felder und die Weide einen wirklich guten Preis, das Feld von Loyal, wahrscheinlich mehr, als es gerade wert ist. Und ich hab”nen Arzt aus Boston, der das Waldstück und den Zuckerahornhain kaufen will. Will oben im Wald eine Jagdhütte bauen. Mit Ott und dem Arzt bist du schuldenfrei. Ich sag’ dir ganz klar, wie es ist, Jewell. Du mußt den Anblick anderer Leute auf deinem Grund und Boden schlucken, und dir wird nicht viel übrigbleiben. Ein Dach über dem Kopf. Ein Stück Garten. Vielleicht achthundert Dollar in bar. Eine von euch muß sich nach’ner Stelle umsehen, vielleicht sogar beide, wo Dub doch ist, wo er ist. Aber so geht’s eben. Ich brauch’s dir ja nicht zu sagen, Jewell, wenn schwere Zeiten kommen, müssen wir einfach das Beste draus machen.«
    »Es ist schrecklich freundlich von Ott, daß er einspringt, so bleibt wenigstens’n Teil von der Farm in der Familie«, sagte Jewell, die Worte hinterließen einen bitteren Geschmack. Ihre Stimme zitterte, wurde leiser. »Diese Farm gehört seit den Tagen des Unabhängigkeitskriegs den Bloods. Ich werd’ nie erfahren, warum Mink sich nicht an Ott gewandt hat, warum er gedacht hat, die Farm würd’ nichts einbringen«, flüsterte sie und dachte dabei, daß Ott Mink hätte helfen können, er hatte die Probleme sehen und einspringen können. Brüder kehrten Brüdern den Rücken zu.
    »Also, Jewell, man muß den Markt kennen. Mink wußte nicht mal, daß es einen Markt gibt, einen Immobilienmarkt. Ihr Leute seid unter euch geblieben. Habt einiges verpaßt. Veränderungen. Heute geht’s nicht bloß darum, was eine Farm als Farm wert ist. Es gibt Leute mit gutem Geld, die wollen ein Plätzchen fürn Sommer haben. Die Aussicht. Das ist wichtig. Die Berge sehen, ein Gewässer. Die Farmen gleich über der Straße gehen nicht gut, aber wenn’ne schöne Aussicht vorhanden ist, dann...« Aus seinem Mund klang das Wort »schön« täppisch.
    Er meinte, daß er, Ronnie, Schliff bekommen, etwas gelernt hatte. Jewell erinnerte sich daran, wie er vor Jahren gewesen war, ein schmutziger Junge, der mit Loyal im Wald herumgesprungen war, ein Mitläufer mit keinem für sie erkennbaren Ehrgeiz. Und wenn man ihn sich nun ansah: Jackett und Aktentasche, Schuhe mit Kreppsohlen. Sie dachte an Loyal, der draußen in der Welt verlorengegangen war, an den eingesperrten Dub.
    Er mußte das gleiche gedacht haben. Seine Finger bewegten sich schlaff zwischen den Papieren, bogen die Ecken um.
    »Hast du Kontakt mit Loyal?«
    »Vor ungefähr’nem Jahr schrieb er, daß er in’nem Bergwerk arbeitet. Ich hab’ versucht, ihm wegen Mink zu schreiben, aber er hat nicht dran gedacht, uns seine Adresse zu schicken, vielleicht ist er auch weitergezogen.« Loyal hatte immer gesagt, der Grund, warum er gern mit Ronnie zur Jagd gehe, sei, daß er immer wisse, was man denke, daß man nie anzuhalten und sich zu bereden oder dämliche Handzeichen zu geben brauche. Er wußte Bescheid.
    »Jetzt zu dem Arzt aus Boston. Ist er halbwegs anständig?«
    »Dr. Franklin Saul Witkin. Scheint recht nett zu sein. Um die Vierzig, Fünfundvierzig. Macht’nen ordentlichen Eindruck. Nicht sehr redselig. Trägt eine Brille. Ein bißchen beleibt, rotes Gesicht. Hautarzt, ist auf Hautkrankheiten

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