Postkarten
setzte die Zwinge an, hielt das Lid mit den zitternden Fingern der linken Hand fest und schraubte den herausragenden Splitter unter schrecklichen Schmerzen fest. Er roch das Metall der Zwinge, spürte das rasende Klopfen seines Blutes. Er schätzte den Einschlagwinkel des Splitters ab, dann zog er daran. Heiße Tränen strömten ihm übers Gesicht. Er hoffte, daß es Tränen waren. Einmal hatte er einen ins Auge getroffenen Hund gesehen und die Flüssigkeit, die aus seinem geplatzten Augapfel rann. Der Schmerz war schlimm, aber erträglich. Er lehnte den Kopf zurück und wartete. Mit dem Auge konnte er rein gar nichts sehen. Vielleicht nie wieder.
Nach einer Weile öffnete er das Handschuhfach und holte die Schachtel mit dem Mull heraus. Die Schachtel war an den Ecken eingedellt und schmutzig, weil sie jahrelang zwischen Zündkerzen und Streichholzschachteln herumgelegen hatte, aber der Verband darin war noch immer in blaues Papier gewickelt. Er deckte sein Auge ab, wickelte sich den Verband um den Kopf und befestigte ihn hinter dem rechten Ohr mit einer Schlaufe. Er ließ den Wagen an und fuhr auf die Überlandstraße hinaus. Trotz seiner verschwommenen, einäugigen Sicht war ihm bewußt, daß er durch rötlichen Dunst fuhr. Der vom Jeep beim Herfahren aufgewirbelte Staub hatte sich noch nicht wieder gelegt.
In der Klinik Glastüren, aufgeklebte Buchstaben. Das Wartezimmer voller alter Männer, die Hände über Gehstöcken verschränkt. Sie blickten ihn erwartungsvoll an. Hinter einer Glaswand mit Schiebefenster saß ein Mädchen. Sie öffnete das Fenster. Lockiges Haar, Augen in Form von Kürbiskernen.
»Ihr Problem?«
»Hatte’nen Splitter im Auge. Hab’ ihn rausgezogen. Tut höllisch weh.«
»Setzen Sie sich mal hin. Dr. Goleman wird sich gleich um Sie kümmern. Haben grade noch’nen Notfall. In der Ambulanz geht’s immer rund. Sie sind heute schon unser dritter Notfall. Erst hatten wir eine Frau, die hat die Tür zu ihrem Transporter aufgemacht und sich dabei die Schneidezähne abgeschlagen und die Nase gebrochen, eine junge Frau, wir mußten den Kieferchirurgen holen. Jetzt haben wir’nen Mann, dem hat einer von seinen Arbeitern mit der Schaufel die Finger abgeschnitten, beim Graben nach Dinosaurierknochen. Und nun Sie, und dann haben wir immer noch den Nachmittag. Heute ist die Hölle los. Und ein paar von unseren Stammpatienten sitzen schon seit zwei Stunden hier. Können Sie das Formular hier ausfüllen, oder soll ich’s Ihnen vorlesen, und Sie diktieren mir die Antworten?«
»Ich schaff’s schon.«
Aber er schrieb bloß seinen Namen hin, setzte sich dann mit zurückgelegtem Kopf und zählte die harten, schmerzhaften Schläge seines Herzens hinter den geschlossenen Augenlidern, bis ihn der alte Mann neben ihm am Handgelenk zupfte.
»Ich bin in der Gegend hier aufgewachsen«, flüsterte er.
»Mein alter Pa war Landvermesser. War schon in den alten Zeiten hier. Zwölf Kinder, ich war das dritte. Ich bin als einziger noch übrig. Wollen Sie was Komisches hören? Ich erzähl’ Ihnen was ganz Komisches, und zwar wie mein alter Pa gestorben ist. Wir sind im Dunkeln zur Hütte heimgelaufen, ich, mein alter Pa und meine Schwester Rosalee. Ich weiß nicht, wo die übrigen waren. Rosalee sagt zu ihm: ›Wieso sehen wir in der Gegend eigentlich keine Tiger und Löwen?‹ Darauf Pa: ›Hier gibt’s keine. Löwen und Tiger, die leben in Afrika.‹ Und wir gehen in die Hütte. Am nächsten Tag zieht mein alter Pa los, um irgendwo in den Bergen was zu vermessen, und kommt nicht wieder zurück. Nach ein paar Tagen sagt seine Frau, das heißt seine zweite Frau, ich hab’ sie nie leiden können: ›Er müßte längst wieder dasein. Ich hab’ das Gefühl, ihm ist was passiert.‹ Na ja, sie wußte nicht, wie recht sie damit hatte. Er wurde da oben gefunden, und sein Richtkreis und seine Markierungsfähnchen lagen um ihn rum am Boden. Auf seiner Brust waren Krallenspuren und überall die Abdrücke von’ner großen Katze. Und Rosalee hat gesagt: ›Das waren Tiger‹ und ließ sich nie vom Gegenteil überzeugen. Was sagen Sie dazu?«
Aber Loyal sagte nichts, bis der alte Mann ihn wieder am Arm zupfte.
»Sie sollen jetzt reingehen, Junge. Schaffen Sie’s?«
»Und ob.« Aber der Boden schwankte wie ein Schiffsdeck.
Und im nächsten Raum sah er ein Ungeheuer, die linke Hand in einem Kokon aus Bandagen, die Füße in offenen Basketballschuhen, der verfilzte Bart naß vom Speichel der Tobsucht.
»Was zum
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