PR 2627 – Die letzten Tage der GEMMA FRISIUS
die Fremdnutzung der GEMMA FRISIUS. Anfänglich bekämpften die Leute ihren Gegner, und als sie die Aussichtslosigkeit ihrer Aufgabe erkannten, wollten sie das Schiff vernichten. Weil sie eine Gefahr erahnten, die so groß war, dass sie ihr eigenes Schicksal hintanstellten.
Ich betrachte Mohanram Tivelani. Er scheint ein großer, ein verantwortungsvoller Schiffsführer gewesen zu sein.
Und er ist nicht allein gestorben. Ich betrachte die Frau, die er eng umschlungen in seinen Armen hält. Ihr Name ist Towa Ormaject. Ich frage mich, was sie in den letzten Sekunden ihrer Leben aneinandergebunden hat – und kenne die Antwort. Die Chefin der Ortungsabteilung an Bord der GEMMA FRISIUS zeigt denselben verzückten und friedlichen Gesichtsausdruck wie Tivelani.
Liebe ist etwas Sonderbares. Ihr wohnt eine Kraft inne, die durch nichts zu ersetzen ist.
*
Der Strukturpilot Kempo Doll'Arym meldet sich per Funk bei mir.
Seltsam: Ist es denn wirklich erst einige Stunden her, dass er und seine Kollegen einen Anfall erlitten haben, der den seltsamen Bedingungen in der Nähe von Sektor Null geschuldet ist?
Ich hatte Kempo in der Bordklinik in den bewährten Händen von Gabriella Svensson gewusst und kaum einen Gedanken an ihn und die anderen Charonii verschwendet.
»Es geht dir gut?«, frage ich statt einer Begrüßung.
»Gut wird es mir erst gehen, wenn ich zurück in der Charon-Wolke bin und in Strukturgewittern baden darf.« Er bringt ein schwaches Lächeln zustande, das sein Gesicht noch schmaler wirken lässt. »Sagen wir: Ich fühle mich den Umständen entsprechend gut.«
»Was ist mit euch geschehen? Warum diese Anfälle?« Wenn sich Kempo zum Dienst zurückmeldet, gehe ich davon aus, dass er mein Lächeln und mein Arbeitstempo aushält.
»Allesamt hatten wir während des letzten Kursflugs eine ... hm ... unfokussierte Angstvorstellung. Unserem Gespür nach hängt sie mit der vorhandenen Raum-Zeit-Struktur im Bereich des verschwundenen Solsystems zusammen. Beziehungsweise damit, dass sich im Inneren von Sektor Null nichts befindet.«
»Das wissen wir bereits.«
»Du scheinst nicht richtig zu verstehen.« Er bläst die Wangen auf. Ungesund wirkende rote Flecken machen sich dort breit. »Ihr ertastet die Umgebung mithilfe eurer Schiffsinstrumente. Ihr wisst, dass jenseits der Oortschen Wolke, dort, wo sich das Sonnensystem befinden sollte, ein Nichts droht. Eines, das sich nicht erklären und vorerst auch nicht erkunden lässt.«
»Und?« Der Charonii strapaziert meine Geduld. Ich möchte hier weitermachen.
Curi Fecen weist mich mit Handzeichen darauf hin, dass er noch etwas gefunden hat. Ich deute ihm und Sichu voranzugehen.
Ich stolpere hinterher, auf das Gespräch mit Kempo Doll'Arym konzentriert.
»Mit unseren Pilotensinnen erscheint es so, als würden wir auf dünnem Eis Jetschuh laufen. Du kennst Jetschuh?«
»Ja. Weiter.«
»Die Eisschicht hier ist dünn. So fragil, dass sie bei jeder Bewegung knackst und wir mit unseren speziellen Sinnen im Wasser zu versinken drohen.«
Kempo rang mit Worten. Er wollte mir begreiflich machen, was er fühlte und wie er fühlte.
»Und dann geschah es: Für eine Sekunde berührten wir das, was sich unter der Eisschicht der herkömmlichen Raum-Zeit-Struktur befindet.«
»Und da war gar nichts. Das wissen wir bereits.« Ich verliere meine Geduld.
Kempo zeigt ein verkniffenes Lächeln. »Du verstehst noch immer nicht. Wir spürten eine Leere, eine monochrome Taubheit. Unsere Parasinne wurden wie magisch davon angezogen. Sie drohte uns zu verschlingen. Nicht einmal die geringen Phänomene des normalen Weltalls waren mehr da, anhand derer wir uns mental ein wenig verankern konnten.«
Seine Stimme wurde leiser. Seine in die Ferne gerichteten Blicke behagten mir ganz und gar nicht.
»Keine Oberfläche«, murmelte er. »Keine Haut. Kein Eis. Kein Raum. Keine Zeit. Bloß ein Nichts, in dem nichts mehr gilt. Physikalische und hyperphysikalische Gesetze haben keine Gültigkeit. Für dieses Allesfehlen fehlt unserer Sprache und unserem Verstand das Verständnis. Selbst das Wort ›Nichts‹ reicht für eine Beschreibung nicht aus.«
Ich beginne zu begreifen. Das Thema ist abstrakt und womöglich eher mithilfe metaphilosophischer Ansätze zu erklären denn mit denen der Physik und eherner Naturgesetze.
Scheinbar eherner Naturgesetze. Denn wenn stimmt, was Kempo zu sagen versucht, dann steht dieses »Allesfehlen« außerhalb jeglicher Möglichkeit einer
Weitere Kostenlose Bücher