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PR 2661 – Anaree

PR 2661 – Anaree

Titel: PR 2661 – Anaree Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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würde.
    Sie schloss die Augen. Auf Taras vernarbter Brust jagten sich kurz Licht und Schatten und vereinigten sich dann.
    Der alte Jäger stand da wie erstarrt. Alle Geräusche erstarben. Die plötzlich eingetretene Stille kam Anaree unheimlich vor.
    Als wäre sie abrupt aus einem tiefen Schlaf erwacht, aus einem lebhaften Traum.
    »Ich kann es nicht ändern«, sagte Tara. »Es gab schon viele wie dich. Sie alle haben zum Baum gesehen. Sie hatten denselben Blick wie du. Und sind dann irgendwann verschwunden.«
    Anaree wusste nicht, was er meinte, doch seine Worte bereiteten ihr Unbehagen. Mehr noch, sie machten ihr Angst.
    Sie schwieg betroffen.
    »Gealtert und dann verschwunden. Einfach so.«
    »Wohin?«
    Der alte Jäger zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht ändern«, wiederholte er. »Du wirst es tun.«
    »Was?«
    »Das weißt du doch, oder, Anaree?«
    Sie schwieg wieder.
    »Aber du siehst aus wie die Morgenschwester. Und das macht alles nur umso schlimmer.«
    »Ich sehe aus wie die Morgenschwester?«
    Tara nickte, betrübt, wie es Anaree vorkam. »Die Morgenschwester tut nichts ohne Grund. Und wenn eine aus dem Tagvolk aussieht wie sie ...«
    Anaree war erst fünf, doch sie wusste, dass Tara mehr sagen wollte, als er soeben gesagt hatte. Warum sagte er es nicht?
    Die Morgenschwester ... Anaree hatte sie noch nie gesehen, nur von ihr gehört. Sie war die Göttin, die für das Tagvolk sorgte, ihm Wasser und Nahrung gab.
    Und Anaree sollte aussehen wie die Morgenschwester? Wieso? Sie verstand nicht, was Tara Marate ihr sagen wollte.
    »Ich kann es nicht ändern«, wiederholte der Jäger. »Ich weiß, es wird geschehen. Und ich weiß, wir werden das Kaninchen jagen. Es war so, es ist so, und es wird so sein. Aber ich bitte dich dennoch – geh nicht zu dem Tabu.«
    »Zu dem Tabu?«
    »Zu dem Baum mit dem Kristall ... dem Sternsaphir!«
    Sternsaphir? Was war ein Sternsaphir?
    Aber sie stellte die Frage nicht.
    Sie atmete erleichtert aus und war froh, als er sich umdrehte und wieder ging.
    Warum ist er überhaupt hierhergekommen?, fragte sie sich. Und wenn er mir etwas sagen will ... warum sagt er es mir dann nicht? Warum redet er darum herum? Was sollen diese Andeutungen?
    Aber wusste sie nicht genau, was er meinte? Und war seine Ermahnung nicht berechtigt?
    Die eindringlichen Worte schienen genau das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie beabsichtigt hatten. In Anaree wurde die Sehnsucht immer stärker, das funkelnde, verführerisch gleißende Sternjuwel zu betasten, zu erfühlen, eingehend zu untersuchen.
    Es war eine schier unstillbare Sehnsucht, die sie im Gegensatz zu allen anderen des Tagvolks verspürte.
    Warum ich?, dachte Anaree. Die anderen des Tagvolks mieden den verbotenen Kristall, doch sie konnte dem Reiz des Verbotenen kaum widerstehen. Warum? Was macht mich anders als alle anderen?
    In diesem Augenblick war ihr klar, was sie tun würde. Sie wollte Antworten haben, und sie würde sie erhalten.
    Sie wartete, bis Tara Marate außer Sichtweite war, hinter den Bäumen auf dem Weg zu den zehn Hütten, die das Dorf bildeten. Dann schlenderte sie zu dem Baum, verharrte hin und wieder und zeichnete mit dem Stock in den Sand.
    Natürlich würde sie niemanden damit täuschen und ganz bestimmt nicht Tara, falls er umkehren und noch einmal nach ihr sehen sollte. Doch sie kritzelte wieder Bilder, tat ganz unbeteiligt.
    Anaree war selbst ein wenig erschrocken, als sie unvermittelt direkt vor dem Baum stand. Sie wagte es kaum, den Blick vom Stock zu lösen und den Kopf in den Nacken zu legen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich den Mut fasste, an dem borkigen Ungetüm hochzusehen. Wie ein Riese türmte sich der Baum vor ihr auf. Die Laubkrone schien einen Schatten zu werfen, der den Fluss bis zur Mitte verdunkelte. Und kräuselte sich nicht die Rinde, als wolle sie sich aus eigenem Antrieb verändern, ein ... Gesicht bilden?
    Sie schaute zu dem Kristall empor. Er baumelte zwischen den Blättern wie von einer unsichtbaren Geisterhand gehalten, schwang langsam hin und her, obwohl kein Windhauch ging.
    »Berühre mich!«, schien er zu flüstern. »Berühre mich!«
    Anaree zögerte. Sie war schon oft beim verbotenen Baum gewesen, hatte den Kristall pendeln sehen, obwohl es völlig windstill gewesen war, oder auch den seltsamen Anzug. Nie aber hatte das Juwel zu ihr gesprochen. Warum ausgerechnet jetzt?
    Du wirst verbrennen, wenn du ihn berührst ... Sie hörte die andere Stimme ganz deutlich in ihrem

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