PR 2661 – Anaree
Nacktheit.
Kinder liefen nackt herum. Junge Mädchen nicht mehr. Und sie war nun ein junges Mädchen.
Eines, das überdies aussah wie die Morgenschwester.
Sie ahnte, welche Probleme damit auf sie zukommen würden. Wie würde das Tagvolk reagieren, wenn es sie so sah?
Aber hatte der alte Jäger nicht behauptet, dass so etwas schon öfter vorgekommen war? Was hatte er gesagt? Es gab schon viele wie dich. Sie alle haben zum Baum gesehen. Sie hatten denselben Blick wie du. Und sind dann irgendwann verschwunden.
Einen Augenblick lang glaubte sie zu wissen, was sie erwartete, ahnte sie so deutlich, was die Zukunft für sie bereithielt, dass sie unter der Last dieser Erkenntnis zusammenzubrechen drohte. Taras Worte ... und die der Morgenschwester. Sie hätte sie am liebsten vergessen, doch sie hatten sich unauslöschlich in ihr Bewusstsein gebrannt.
Weil du sterben wirst. Für mich.
War das die Strafe, die die Morgenschwester für sie vorgesehen hatte?
Aber nein, nach einer richtigen Strafe hörte sich das eigentlich nicht an ...
Sie hatte gebrannt, ja, aber sie war nicht verbrannt. Sie lebte noch, und sie war sie selbst.
Die Morgenschwester, erkannte Anaree. Sie hat es so gewollt, von Anfang an so geplant ...
Sie sah zum Himmel hoch. Es wurde dunkel. Sie musste zum Dorf zurück, zu den Hütten, die die Heimat des Tagvolks waren. Sie glaubte es zwar nicht, aber vielleicht würde man sie schon vermissen. Zumindest bei Tara Marate konnte sie sich das vorstellen. Er würde erfahren wollen, was mit ihr geschehen war.
Tara hatte von Anfang an gewusst, was sie tun würde. Nicht erst, seit sie immer wieder zum Fluss gegangen war ... zum Baum. Sondern von dem Moment an, da er erkannt hatte, dass ihr Gesicht das der Morgenschwester war.
Sie ging los, orientierte sich an den Kritzeleien, die das Flussufer säumten. Ein Strich mit dem Stock nach dem anderen. Figuren und Darstellungen, bei denen sie schon jetzt nicht mehr wusste, was sie gedacht hatte, als sie sie in den Sand gezeichnet hatte.
Sinnlose Bilder. Die eines Kindes. Krakelig und unbeholfen. Es war ihr peinlich, das zu sehen, worauf sie vor Kurzem noch so stolz gewesen war.
Es kam ihr vor, als kehrte sie mit jedem Schritt tiefer in ihre eigene Vergangenheit zurück. Je weiter sie ging, desto mehr Zeit hatte das Wasser gehabt, die Ränder ihrer Bilder zu verwischen, desto undeutlicher wurden sie.
Sie blieb stehen. Einen Atemzug lang befürchtete sie, die Orientierung verloren zu haben.
Das war ihr noch nie passiert. Wie oft war sie schon am Fluss gewesen, hatte dort gespielt, sich dabei immer näher zu dem verbotenen Baum gearbeitet?
Und es gab nur einen Weg nach Hause ...
Hatte sie sich etwa in Strichzeichnungen ihrer Kindheit verloren, die unwiederbringlich beendet war?
Der Himmel war grau, doch ein schwarzes Gekräusel darin wies ihr den Weg. Eine Rauchsäule, von einem Feuer, das wahrscheinlich Tara Marate angezündet hatte. Er musste schließlich das Fleisch braten.
Anaree setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. Sie konnte sich nicht erinnern, bei all ihren Ausflügen jemals eine Rauchsäule gesehen zu haben, die ihr den Weg zum Dorf wies.
Sie bemühte sich, gar nichts mehr zu denken, und schließlich sah sie die Hütten des Tagvolks vor sich.
*
Niemand schenkte ihr übermäßig Beachtung, niemand schien sie vermisst zu haben. Die anderen gingen ihrem Tagwerk nach, wie sie es Tag für Tag taten.
Anaree lief zu Wila, um ihr zu erzählen, was ihr passiert war. Dass sie die Morgenschwester gesehen, das Juwel am Baum berührt hatte. Doch sie konnte es nicht. Sosehr sie sich auch bemühte, kein Ton kam über ihre Lippen.
Wila sah sie an und nickte freundlich. Sie lächelte und murmelte etwas, doch bevor Anaree antworten konnte, war sie weitergegangen und drehte sich nicht mehr zu ihr um.
Und als Siroe ihr über den Weg lief, sagte sie: »Du bist groß geworden. Das ist schön. Das Tagvolk braucht starke Hände, die Tiere häuten, ausweiden und das Fleisch zerteilen können.«
Damit ließ sie sie einfach stehen.
Aber Siroe schien wenigstens aufgefallen zu sein, dass Anaree älter geworden war. Als sie jedoch darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass sie eigentlich keine ungewöhnliche Verwandlung erlebt hatte. Beim Tagvolk tauchten öfter neue Angehörige auf und wurden andere manchmal sehr schnell älter.
Manche schienen einfach zu verschwinden, ohne dass die anderen sich großartig daran störten.
Sie selbst hatte es öfter erlebt,
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