PR 2661 – Anaree
verstand sie nicht, doch dann begriff sie, um wen es sich handeln musste.
Die schlanke Gestalt trug ein knöchellanges Wickeltuch – einen »Chiton«, wie Anaree im nächsten Sekundenbruchteil dachte. Der Chiton bestand aus zwei viereckigen, an den Schultern von Fibeln zusammengehaltenen und in der Taille gegürteten Stoffbahnen. Als Gürtel diente eine weiße Kordel, deren Enden in fingerlangen Quasten ausliefen.
Als Anaree auf den seidig fließenden Stoff schaute, verlor sich ihr Blick, glitt ab und tiefer und sah etwas, das an einem anderen Ort sein musste: eine matt funkelnde Szenerie aus schwarzem Samt, in dem Myriaden winziger bunter Lichter funkelten.
Das waren ... Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen.
Die beiden spiralförmigen, handflächengroßen Fibeln auf den Schultern bestanden aus einem golden spiegelnden, von innen heraus glimmenden Material.
Das war ... Carit!
Anaree hatte das Wort nie zuvor gehört, aber das Wissen um das Wort und seine Bedeutung war plötzlich da.
Vom Zentrum der Spiralen ragten blauweiß funkelnde, saphirähnliche, reich facettierte Kristalle auf. Sie waren winzig, hatten vielleicht anderthalb Zentimeter Durchmesser, mehr nicht.
Aber sie sahen genauso aus wie ... der Sternsaphir am verbotenen Baum!
Nein, dachte Anaree. Warum ich? Wie kann das ausgerechnet mir passieren?
Die Morgenschwester, die Göttin des Tagvolks, die schützend die Hand über sie alle hielt, machte einen Schritt auf sie zu.
Anaree konnte sich nicht bewegen. Widersprüchliche Gefühle drängten in ihr empor. Angst und Neugier, Freude und ... Scham.
Überwältigende Scham. Anaree hatte gegen das Tabu verstoßen. Sie war schwach gewesen, hatte der Verlockung nicht widerstehen können. Deshalb würde die Morgenschwester sie jetzt bestrafen.
Wie alle vom Tagvolk es ihr prophezeit hatten. Sie würde verbrennen.
Das alles war fürchterlich ungerecht! Hatte sie nicht schon gebrannt?
Anaree senkte demütig den Kopf. Die Morgenschwester duldete keinen Widerspruch. Ihr Wille geschah.
»Ich habe gegen das Gebot verstoßen, Herrin«, sagte sie leise. Sie sah zum Fluss, wagte es nicht, den Blick auf die Morgenschwester zu richten. »Du wirst mich bestrafen, und ich werde akzeptieren, was immer du mir zugedenkst.«
Die Morgenschwester musterte sie nachdenklich. Aber eher interessiert als vorwurfsvoll, zumindest kam es Anaree so vor. »Du hast deine Strafe schon erhalten«, sagte sie schließlich. »Du kannst gehen. Aber vergiss nie, was sich hier an diesem Tag ereignet hat.«
Fast trotzig sah Anaree nun auf. Das sollte alles gewesen sein? Irgendwie war sie ... enttäuscht. »Warum lebe ich noch?«
»Weil du sterben wirst«, antwortete die Morgenschwester. »Für mich.«
Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und ging davon, in Richtung Dorf.
2.
Das Kaninchen
Es dauerte lange, bis Anaree sich endlich aufrappelte. Ihre Beine zitterten, sie konnte kaum stehen.
Sie taumelte zum Fluss, um zu trinken, kniete nieder, legte die Hände zusammen und spreizte sie, um einige Tropfen schöpfen zu können.
Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich ihr Gesicht.
Sie stöhnte leise auf.
Was ist mit mir geschehen?, dachte sie. Fünf. Fünf Jahre alt. Das kann doch nicht sein!
Sie beugte sich vor, und im Wasser war nun nicht nur ihr Kopf, sondern auch ihr Oberkörper zu sehen. Sie zwang sich, tief ein- und langsam wieder auszuatmen, sich zu beruhigen.
Es war weiterhin ihr Gesicht, das dort auf der Wasseroberfläche trieb, allerdings verändert. Es war ... älter geworden, reifer.
Nun verstand sie, was Tara Marate gemeint hatte, als er gesagt hatte, Anaree habe das Gesicht der Morgenschwester. Es waren zweifellos deren Züge, die sie nun auf der glänzenden Oberfläche sah, eine etwas jüngere Ausgabe davon, aber die Ähnlichkeit war unverkennbar.
Sie war kein Kind mehr, keine fünf Jahre mehr alt. Sie war fünfzehn ... mindestens. Sie war mehr als nur halbwüchsig, in jenem Alter, in dem die Mädchen des Tagvolks sich seltsame Blicke zuwarfen und noch seltsamere, sinnlose Worte flüsterten, die niemand verstand außer ihnen selbst. In dem sich die Ersten von ihnen mit den Jungs in die Büsche schlugen, um zu tun, was immer sie dort taten.
Und sie war nackt. So nackt, wie sie gewesen war, als sie zum Fluss gegangen war, bewaffnet mit dem Stock, um Bilder in den Sand zu kritzeln und sich dabei dem Baum zu nähern, von dem sie sich fernhalten sollte. Anders als zuvor schämte sie sich ihrer
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