PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche
nichts dabei. Blut rann in seine kurze, lederne Hose. Seine Mutter weinte und lachte zugleich. Feuchte Wunden verklebten mit den Fetzen des Hemds... Wieder eine unbestimmte Zeit später ließen Qualm und Hitze allmählich nach. Fast bedauerte er es, als dann auch die Rufe leiser und die Schläge schwächer wurden. Ein Film aus rotem, salzig und metallisch schmeckendem Schweiß lag über seinem Gesicht, trübte, vermengt mit Ascheflocken, seinen Blick. Die schemenhafte Gestalt rechts neben ihm schwankte hin und her, vor und zurück. Dann sackte sie in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem schlagartig alle Luft entwichen war. Erst etliche flache, keuchende Atemzüge später wurde Boryk klar, dass Rautsh in Ohnmacht gefallen war.
Rautsh, der um fast einen Kopf größere und viel stärkere Rautsh, hatte vor ihm das Bewusstsein verloren!
Mit diesem Gedanken breitete sich ein ungeheures Glücksgefühl in Boryk aus. Jäh kehrten auch die Schmerzen zurück. Wie eine schwarze Welle schlugen sie über ihm zusammen. Er öffnete den Mund, wollte schreien. Doch er kam nicht mehr dazu.
Das bleiche Licht der Mitternachtsmonde lag über dem Festplatz, als Boryk erwachte. Er hob den Kopf, versuchte sich aufzurichten. Tränen schossen in seine Augen. Alles, wirklich alles tat ihm weh. Jede kleinste Bewegung löste neue Qualen aus. Auf allen vieren kroch er zum Tümpel und ließ sich ins Wasser plumpsen. Das war sehr kalt, doch auch erquicklich und belebend. Boryk prustete. Sein Herz
hämmerte in der Brust.
Während er die Überreste des Hemds ablöste, wobei etliche der verkrusteten Striemen auf seinem Oberkörper erneut zu bluten anfingen, schwand die neblige Mattigkeit, und sein Kopf klärte sich. Die erste Stufe hatte er überstanden - um den Preis, dass er sich fühlte, als wäre er unter einen Mähdrescher geraten. Immerhin hatte er nicht versagt, wie er befürchtet hatte, sondern durchgehalten, sogar länger als Rautsh.
Boryk grinste. Das würde dem alten Großmaul gar nicht schmecken...
Er stieg aus dem Tümpel, schüttelte sich, stöhnte leise, blickte sich um. Die mit Lautsprecherboxen behängten Menhire hinter dem erkalteten Weihrauchbecken warfen bläuliche Schatten auf den festgetretenen Lehmboden. Der Festplatz war verlassen. Abgebrochene Ruten lagen herum, weiße Stofffetzen, zahlreiche leere Mostkrüge und zerkaute Stummel von Zigarren. Morgen früh würden die Kinder und Jugendlichen ausrücken, um die kreisförmige Fläche zu säubern und aufzuwaschen.
Bis zu dieser Nacht war Boryk einer von ihnen gewesen...
Er erschrak, als ihm bewusst wurde, dass seine Krippbrüder bereits aufgebrochen waren. Wieder einmal hatte er am längsten geschlafen. Und natürlich hatten Gujnar und Rautsh ihn nicht geweckt. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, sagten die Mühleningenieure. Einer von Boryks Vätern war deren Maherrot, weshalb Mama immer nur das allerfeinste Mehl für Brot und Süßriegel verwendete.
Ach, Mama...
Ach, Süßriegel...
An Essen zu denken, erwies sich als Fehler. Boryks Magen knurrte vernehmlich. Sogleich gesellte sich zum Hunger der Durst. Das Wasser des Tümpels zu trinken, war allerdings nicht ratsam. In ihn würde sich noch vor kurzem so mancher berauschte Erwachsene erleichtert haben.
Sehnsüchtig wandte Boryk seinen Blick zu den Dächern der Hütten, die hinter den Palisaden hervorragten. Dort drüben gab es Speis und Trank in Fülle, wohlige Wärme und Geborgenheit. Aber nicht für ihn, nicht in dieser Nacht. Nicht, bevor er erfolgreich von der
Jenseite zurückgekehrt war. Er seufzte tief. Ihn fröstelte, und keineswegs nur, weil ihn eine Windbö gestreift hatte. Die Angst, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, hielt ihn wieder gepackt, mit kalten, spitzen Klauen. Mutlos ließ er die Schultern sinken.
Warum ging er nicht endlich los? Was hielt ihn noch hier?
Ins Dorf konnte er nicht, und wenn er es sich noch so sehr wünschte. Ihm stand nur eine Richtung offen: hinauf, immer weiter hinauf. Boryk schluckte, würgte, schluchzte. Er schämte sich seiner verdammten, feigen Unentschlossenheit und seiner kindischen Tränen. Wischte sie wütend ab, ballte die Fäuste. Versuchte, sich an die Tipps zu erinnern, die ihm seine Väter gegeben hatten: »Die ersten Schritte sind die schwersten, die ersten paar hundert Höhenmeter die anstrengendsten. Dann wird es leichter, ehrlich. Du wirst sehen, es ist halb so wild. Wir alle haben es geschafft, sogar der dicke Fosse.«
Aber es hatte auch andere
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