PR NEO 0046 – Am Rand des Abgrunds
Manipuri aufzunehmen. Sie reizte ihr volles Repertoire aus.
Sie sah, wie seine Augen ihr folgten, wie er mit dem spielte, was sie verband. Er forderte sie heraus und sie ihn. Als am Ende die Töne ausklangen, waren sie beide schweißgebadet.
Heftig atmend stand sie vor ihm und sah ihn an. Sie hob eine Hand, langsam, und berührte seine unversehrte Wange. Er hinderte sie nicht daran.
»Ich habe alles gehört, was du geschaffen hast, Mahesh Hélder«, sagte sie leise. »Und ich habe es verstanden. Du willst die Welt heilen. Aber die Welt ist zu groß. Ich habe mich auf ein Land beschränkt, ein Land voller Widersprüche, das es dringend nötig hat, geheilt zu werden, ehe es sich zerreißt und die Explosion unheilbare Narben hinterlässt. Ich fordere dich noch einmal heraus. Sieh meine Tänze an und versteh, was ich tanze, so, wie ich verstehe, was du singst. Und dann können wir vielleicht gemeinsam Dinge angehen, die wir auch erreichen können.«
Sie sah das leichte Zittern seines Kinns und spürte seinen warmen Atem über ihren Arm streichen, doch er sagte nichts. Er sah sie nur an.
Sie strich mit ihren Fingerspitzen über seine Wange, wandte sich ab und ging.
Sharmila wischte die Tränen von ihrem Gesicht. Als sie die Augen wieder öffnete, war alles um sie herum noch so wie zuvor. Geschirrgeklapper und gemurmelte Unterhaltungen erfüllten den Saal voller Menschen, die noch immer die gleichen Sachen trugen, in denen sie auf das Gespinst gegangen oder von der zerstörten TOSOMA auf Snowman geflohen waren. Knapp dreihundert Gefangene waren im Celista-Stützpunkt Taseatho zusammengepfercht. Sie waren einmal mehr gewesen.
»Er hat es nicht verdient«, sagte sie. »Er hat so viel überstanden, und er ist immer noch ... ein Mensch dabei geblieben. Er selbst. Er hat es nicht verdient.«
»Hat niemand hier verdient«, knurrte Atu.
Sarah stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Ich weiß nicht viel über Hélder«, sagte die Violinistin. »Nur, dass er aus Indien kommt und in Amerika große Karriere gemacht hat mit seinem Beatboxing. Sie haben ihn auf der Straße entdeckt, oder?«
»Vor der Roten Festung in Neu-Delhi. Da machen Tanzgruppen manchmal Auftritte, Straßenkinder, die sich was zuverdienen. Er hat die Musik für sie gemacht. Vorher ... Habt ihr seine Narben gesehen? Sie sind echt, keine Show. Er hat mit explosiven Stoffen gearbeitet als kleines Kind, um Geld zuzuverdienen, weil seine Mutter allein sie nicht alle durchfüttern konnte. Es ging was schief. Er hatte Glück, dass er dabei nicht blind geworden ist. Aber er hat weitergemacht, wegen seiner kleinen Schwester.«
»Was war denn mit seinem Vater?«, fragte Sarah.
»Weggelaufen oder tot, das weiß keiner. Aber da die Medien ihn bislang nicht ausgegraben hatten, wohl eher tot. Er war ein Portugiese, der in den Ashram gekommen ist, in dem Hélders Mutter damals gearbeitet hat. Sie ist eine Paria, aber dort war das egal. Sie sind ein Paar geworden. Später ist er aber auf Drogen gekommen, und sie mussten den Ashram verlassen. Als dann irgendwann sein Geld weg war, ist auch er verschwunden. Hélders Mutter saß mit den zwei Kindern alleine da. Sie hat sich irgendwie nach Neu-Delhi durchgeschlagen, weil sie hoffte, da leichter Arbeit zu finden.«
Sarah biss sich auf die Unterlippe. »Das muss hart gewesen sein. Parias sind die Unberührbaren, oder? Die, die keiner haben will.«
Sharmila nickte. »Laut Gesetz gibt es sie und das ganze Kastensystem schon seit fast einem Jahrhundert nicht mehr. Aber Gesetze haben in unserem Land einen harten Stand gegen Traditionen. Darum ist es so voller Gegensätze. In Bangalore, wo ich aufgewachsen bin, wird Hochtechnologie erforscht und weltweit verkauft. Wir schossen Raketen ins Weltall. Und gleichzeitig gibt es Gegenden, in denen noch Holzschranken als Zollstationen irgendwelcher selbst ernannten Lokalherrscher dienen, Frauen nur Besitz sind und der Wert nach Geburt anstatt nach Leistung gemessen wird.«
»Wow. Mittelalterlich.«
»Ja. Und auf Dauer unerträglich. Indien ist ein Pulverfass, ein kompliziertes Netz, das zum Zerreißen gespannt ist. Das sind die Dinge, die ich versucht habe, den Menschen dort klarzumachen, auf meine Weise. Meine Familie ist auf dem Rücken so vieler anderer groß geworden. In den Firmen meines Vaters arbeiten solche Menschen wie Hélders Mutter unter teilweise unsäglichen Umständen. Ich versuche, dagegen anzukämpfen, so gut ich kann. Zurückzuzahlen. Mahesh wollte die Welt
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