PR2604-Die Stunde der Auguren
Stradhaird hatte sie durchschaut, ja. Aber er verurteilte sie nicht, er vergab ihnen ihre Bequemlichkeit, ihre Lebensnachlässigkeit.
»Das«, fuhr er fort, »gilt es zu begreifen: Nichts und niemand kann unserer Sehnsucht Grenzen setzen – nur wir selbst. Wenn wir aber solche Grenzen ziehen, wenn wir unsere Sehnsucht in den Käfig unserer Bequemlichkeiten sperren, wenn wir sie zähmen und alltagstauglich machen, dann verkümmert sie. Und wir«, er schloss für einen Moment die Augen, als könnte er nicht ertragen, was seine Vision ihm zeigte, »wir verkümmern mit ihr.«
Die Menge schwieg betreten und nachdenklich, auch – wie es Routh schien – schuldbewusst.
Der Augur hatte die Stimme gesenkt, als er sehr leise fortfuhr: »Wir sind zu Schuldnern an uns selbst geworden. Wir wollen uns das verzeihen. Wir haben uns gängeln lassen von vielem Äußeren – wer hat uns nicht alles gesagt, was wir tun und lassen sollen: imperiale Regierungen, Regenten und Residenten. Großartige Menschen, ja, ohne jeden Zweifel – aber ist ihre Sehnsucht, kann die Sehnsucht der Unsterblichen der Sehnsucht der Sterblichen gleich sein? Unserer Sehnsucht?« Stradhaird berührte mit den gespreizten, feingliedrigen Fingern einer Hand die Region seiner Brust, wo man sein Herz vermuten konnte. »Schälen wir uns aus unserer Sehnsucht, entpuppen wir uns aus dem Kokon der Alten.
Seid ihr denn Agenten eurer Eltern? Waren eure Eltern nicht Agenten ihrer Eltern? Sind am Ende alle die Agenten von niemand, die Agenten eines vergessenen Auftraggebers? Agenten der Toten?«
»Ja, ja«, murmelte es aus Tausenden Kehlen. Eine junge, mädchenhafte Stimme rief: »Aber was sollen wir denn tun?«
Abgekartetes Spiel, dachte Routh. Nur heiße Luft!
Ein weiterer Hörer, noch einer, dann immer mehr forderten es, schließlich hatte sich ein Sprechchor gebildet: »Sag es uns, sag es uns!«
Der Augur lächelte und setzte die Phenube an. Die Melodie klang zweischneidig: ein wenig spöttisch, lockend, fast schon ein erotisches Versprechen. Andererseits hatte sie etwas Unbeirrbares, Vorandrängendes, ein Marsch in die Zukunft.
Es wurde wieder still um diese Musik.
Stradhaird spielte ein paar Minuten. Schließlich verstaute er das Instrument in dem Köcher auf seinem Rücken.
»Morgen. Morgen schon werde ich euch Wegweisung geben. Bringt alle mit, deren Weggefährten ihr sein wollt. Erneuert euch, lasst euch neu formatieren, erneuert die Welt! Auf morgen!«
Er winkte. Sein irisierendes Gesicht wirkte wie eine Maske. Routh schüttelte angewidert den Kopf. Aber tief unter seinem Widerwillen spürte er auch etwas wie eine kleine Seligkeit, dabei gewesen zu sein.
Als er einigen der jugendlichen Zuhörer ins Gesicht schaute, sah er, wie viele von ihnen versuchten, die Mimik des Auguren nachzuahmen: ein wie im Traum von einem besseren Leben erstarrtes Gesicht.
Aber die Ähnlichkeit blieb vage. Etwas stimmte nicht.
Plötzlich wurde Routh klar, was am Gesicht des Auguren für die Menschenkinder unnachahmlich bleiben musste. »Zeig mir seine Augen!«, befahl er Puc. »Vergrößere sie.«
Er schloss die Augen, als sein Implantmemo die Daten ins Gedächtnis spielte. Die Iris des Auguren war von einem matten Gold. Die Pupille darin war ein senkrechter Schlitz.
»Wir wissen zu wenig über den Körper des Fremden«, sagte Puc. »Aber die meisten Pupillen, die wir kennen, sind, wenn sie weitgestellt sind, rund.«
Routh nickte und zog seine Schlüsse. Er schaute in den Himmel, in das düstere, wabernde Rot. Die Sonne war matt sichtbar, ein blasser Fleck mit unscharfen Konturen. Er hätte ohne jeden Schmerz minutenlang in diese Sonnenflecken blicken können.
Aber den Auguren blendete dieses blasse Licht offenbar.
Allmählich erwachte die Versammlung aus ihrer Entrückung. Man wandte sich in alle Richtungen und ging los, munter schwatzend viele, die meisten aber schweigsam, wie um die Worte des Auguren noch auf der Goldwaage der Erinnerung zu wägen.
Routh war stehen geblieben. Die Menge umspülte ihn.
Puc sagte: »Sie reden darüber, morgen um 18 Uhr am Goshun-See zu sein.«
Woher wissen sie das?, wunderte sich Routh. Hatte er diesen Teil der Rede verpasst?
Er konnte nicht weiter darüber nachdenken. Er sah, wie Anicee und Auris auf ihn zukamen. Fassungslos bemerkte er, dass ihr Blick ihn streifte, dass sie ihn erkannte, aber einfach an ihm vorübergehen wollte.
Er griff nach ihrem Oberarm. »Bleib stehen!«
Sie blieb stehen und schaute ihn ratlos an.
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