PR2604-Die Stunde der Auguren
regenbogenfarbige Gesicht schaute sich um. Es schien glatt und reglos, der Augen wegen aber wach und aufmerksam allen gegenüber, die ihm zuhörten.
»Menschlichkeit«, sagte der Augur, »eure Menschlichkeit ist, wenn ich euch recht verstehe, eine im Kosmos seltene, ganz eigentümliche Mischung. Ihr seid treu allem, was sich bewährt hat. Gleichzeitig habt ihr den Mut, zu Neuem aufzubrechen und euch noch das Fremdeste vertraut zu machen: Technik, Weltbilder, Wesen, die euch ähneln oder aber Wesen ganz anderer Art.«
»Siehst du sie?«, fragte Routh.
»Ich hätte es dir gesagt«, antwortete Puc.
Stradhaird sagte: »Ihr seid großzügig in eurer Freundschaft, in eurem Erbarmen, sogar in eurem Hass. Was ihr als unversöhnlich erkennt, als feindlich ohne Rettung, das kämpft ihr nieder. Ihr duldet kein Unrecht. Wenn die Schwachen bedroht sind, die Kranken, die Zivilisationen im Niedergang, dann steht ihr an ihrer Seite. Ihr habt den Arkoniden beigestanden, als ihr Imperium siechte. Ihr habt Seite an Seite mit den Maahks gegen die Meister der Insel gekämpft, ihr habt den großen Sternenschwarm seinen rechtmäßigen Steuerleuten zurückerstattet, das Hetos der Sieben implodieren lassen und seinen Völkern Freiheit verschafft, den Albträumer BARDIOC erweckt, die Milchstraße von Monos befreit, der Terminalen Kolonne TRAITOR widerstanden, ES eine Zweitgeburt erleben und überleben lassen. Wenn ihr dem Universum je etwas schuldig gewesen wärt: Ihr habt diese und jede Schuld abgetragen. Ihr seid frei. Aber seid ihr auch frei für euch selbst?«
Routh überlegte, verstand aber die Strategie hinter diesen Schmeicheleien nicht. Was wollte er mit diesen Lobpreisungen erreichen? Der Augur zitierte inzwischen aus den Heiligen Schriften, auf die er sich bislang nur allgemein berufen hatte.
Routh hörte: »Ihr seid selbstlos. Und in dieser Selbstlosigkeit findet ihr euch und euren Lebenssinn. Aber kann euch die Selbstlosigkeit erfüllen?«
Routh spürte, wie es in den Köpfen der Jungen arbeitete. Der Fremde ließ ihnen Zeit, bis er weitersprach: »Es steht geschrieben: Vor dir ausgebreitet liegt Feuer und Wasser. Strecke deine Hand aus, wonach du Verlangen hast. Vor einem Menschen liegen Leben und Tod, das, woran er Gefallen hat, wird ihm gegeben werden. Dies sind nicht meine Worte. Auf diesen Worten und auf Worten wie diesen gründet eure Kultur, eure Geschichte. Ihr seid ein stolzes Volk: Ihr duldet keinen Zwang, nicht einmal zu eurem Glück würdet ihr euch zwingen lassen. Was euch antreibt, kommt aus eurem Innern. Aber was treibt euch an?«
Der Augur blickte mit seinen eisgrauen, gläsernen Augen in die Runde, ganz so, als vermochte er auf diese Weise in die Seelen seiner Zuhörer zu schauen.
Routh fühlte sich für einen Moment verlockt, eine Antwort auf diese Frage zu geben, irgendeinen Witz, eine Lächerlichkeit, und das Publikum würde lachen, würde befreit auflachen und kopfschüttelnd über diese eigene Verirrung nach Hause gehen.
Da könnte dieser Pseudo-Augur allein stehen bleiben und eine wehmütige Melodie auf seinem Instrument tuten.
Aber ihm fiel nichts ein. Stattdessen ging er der Frage nach: Was trieb die Menschen an? Was trieb ihn an?
Ich sehe sie, meldete Puc, als Routh damit schon nicht mehr gerechnet hatte.
»Wo?«
Puc gab ihm Anicees Position ein. Seine Tochter stand nicht mehr als zwanzig Meter entfernt. Hin und wieder nahmen ihm die Gestalten, die ihr Gewicht von dem einen auf den anderen Fuß verlagerten, die Sicht. Aber das minderte nicht den Triumph, den Routh spürte.
»Verlier sie nur nicht aus den Augen«, mahnte er flüsternd.
»Meine Augen sind deine Augen, großer Bruder.«
Stradhaird sagte: »Es ist die Sehnsucht, die uns antreibt. Sie treibt uns an und führt uns. Kann unsere Sehnsucht uns täuschen?«
Routh sah, wie die Zuhörer langsam den Kopf schüttelten.
»Nein«, sagte der Augur mit stiller, überzeugender Bestimmtheit. »Das kann sie nicht. Die Sehnsucht hat uns nie in die Irre geführt. Sie hat uns ferne, fremde Kontinente entdecken lassen. Sie hat uns den Weg zu den Sternen gebahnt. Manchmal aber legen wir unserer Sehnsucht etwas in den Weg: unsere Trägheit. Ja, auch unseren Ruhm. Unsere Furcht vor der Veränderung. Denn das sind wir auch: herzensträge und im Ruhm bequem. Und warum auch nicht? Es ist nur menschlich!«
Wie im Triumph riss er die Arme nach oben. Sein Instrument schwang wie ein Pendel, ein-, zweimal hin und zurück.
Das Publikum lachte dankbar.
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