Pretty Little Liars - Vollkommen
hatte.
Andererseits, warum reden? Seit Tobys Selbstmord waren drei Wochen vergangen, und der Tag, an dem Bau arbeiter Alis Leiche gefunden hatten, lag bereits einen Monat zurück. Dass Spencer so weit ganz gut damit zurechtkam, lag allerdings hauptsächlich daran, dass A. sich nicht mehr gemeldet hatte. Sie hatte seit Foxy, Rosewoods großem Wohltätigkeitsball, keine Nachricht mehr erhalten. Anfangs machte A.s Schweigen Spencer nervös, denn sie dachte, dies sei nur die Ruhe vor dem Sturm. Aber als mehr und mehr Zeit verstrich, begann sie, sich allmählich zu entspannen. Ihre manikürten Nägel krallten sich nicht mehr unwillkürlich in ihre Handballen. Sie musste nachts nicht mehr die Schreibtischlampe brennen lassen. Sie hatte in Mathe eine Eins plus bekommen und auf ihren Aufsatz über Platons Der Staat eine Eins. Ihre Trennung von Wren – der sie für Melissa abserviert hatte, die wiederum ihn abservierte – tat nicht mehr ganz so weh, und ihre Familie war wieder normal desinteressiert an ihr. Sogar Melissas Gegenwart – sie lebte bei ihrer Familie, während eine kleine Heinzelmännchen-Armee ihr Stadthaus in Philadelphia renovierte – war meistens erträglich.
Vielleicht war der Albtraum ja vorüber.
Spencer bewegte die Zehen in ihren kniehohen sandfarbenen Ziegenlederstiefeln. Selbst wenn sie zu Dr. Evans genug Vertrauen fassen würde, um mit ihr über A. zu reden, was sollte das bringen? Warum über A. reden, wenn A. verschwunden war?
»Es ist nicht leicht, aber Alison war jahrelang spurlos verschwunden. Ich lebe mein Leben weiter«, sagte Spencer schließlich. Vielleicht würde Dr. Evans merken, dass sie kein Redebedürfnis hatte, und ihre Sitzung für beendet erklären.
Dr. Evans schrieb etwas in ihr Notizbuch. Spencer fragte sich, was. »Ich habe auch gehört, dass du mit deiner Schwester Probleme wegen eines Jungen hattest.«
Spencer war empört. Sie konnte sich vorstellen, wie verzerrt die Version des Wren-Debakels gewesen war, die Melissa der Therapeutin aufgetischt hatte. Wahrscheinlich hatte in dieser Schmierenkomödie Spencer Sahne von Wrens nacktem Bauch geleckt und Melissa gezwungen, ihr ohnmächtig vom Fenster aus dabei zuzusehen. »War halb so schlimm«, murmelte sie.
Dr. Evans ließ die Schultern sinken und warf Spencer den gleichen Blick zu, den auch ihre Mutter benutzte. Erzähl mir keine Märchen , bedeutete er. »Er war zuerst der Freund deiner Schwester, stimmt’s? Und du hast ihn ihr ausgespannt?«
Spencer knirschte mit den Zähnen. »Ich weiß, das war nicht in Ordnung, okay? Ich brauche nicht noch eine Gardinenpredigt.«
Dr. Evans starrte sie an. »Ich will dir gar keine Predigt
halten. Vielleicht … hm.« Sie legte einen Finger an die Wange. »Du hattest wahrscheinlich deine Gründe.«
Spencer riss die Augen auf. Hatte sie richtig gehört? Hatte Dr. Evans gerade gesagt, dass sie Spencer nicht für die Alleinschuldige hielt? Vielleicht waren hundertsiebzig Dollar die Stunde doch nicht zu viel Geld für eine Psychotherapeutin.
»Verbringst du manchmal Zeit mit deiner Schwester?«, fragte Dr. Evans nach einer Pause.
Spencer griff nach einer Praline aus der Schale. Sie wickelte die Alufolie in einem Stück ab, strich sie mit der Hand glatt und steckte die Praline in den Mund. »Nie. Nur, wenn unsere Eltern dabei sind. Aber dann redet Melissa nicht mit mir. Sie prahlt nur vor unseren Eltern mit ihren tollen Leistungen und den stinklangweiligen Renovierungsarbeiten an ihrem Haus.« Spencer sah Dr. Evans mitten in die Augen. »Sie wissen sicher, dass meine Eltern ihr ein Haus in der Altstadt gekauft haben, bloß weil sie ihren College-Abschluss gemacht hat.«
»Das weiß ich.« Dr. Evans streckte die Arme in die Luft und zwei silberne Armreifen rutschten auf ihre Ellbogen. »Sehr faszinierend, wirklich.«
Dann zwinkerte die Therapeutin.
Spencers Herz wurde plötzlich ganz leicht. Offenbar interessierte sich Dr. Evans auch nicht gerade brennend dafür, warum Sisal der Vorzug vor Jute zu geben war. Yes!
Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Spencer begann, das Gespräch richtig zu genießen. Dann zeigte Dr. Evans auf die schmelzende Dalí-Uhr, die über ihrem
Schreibtisch hing. Die Stunde war vorbei. Spencer verabschiedete sich, öffnete die Bürotür und rieb sich den Kopf, als habe die Therapeutin ihn aufgemeißelt und in ihrem Gehirn herumgewühlt. Aber es hatte sich tatsächlich weit weniger schrecklich angefühlt, als sie befürchtet hatte.
Sie schloss die Tür
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