Priester des Blutes

los. Dann blickte ich hinauf zu dem Ring der Fackelflammen um den Brunnenrand.
    Ich empfand ein Gefühl der Macht, ein kurzes Aufflackern davon, wie ein Funken, der aus einem Stein geschlagen wird, bevor das Feuer aufflammt.
     
    Ich bin das Kind der Großen Schlange. Ich und meine Vampyrverwandten sind die neuen Priester dieses Blutes. Und das Blut stammt von einer Blutlinie, die auf unsere Mutter zurückweist, auf die Dunkle Madonna, Medhya. Durch unser Blutsaugen erschaffen wir ein neues Volk. Wir sind nicht die Verdammten, sondern die Götter der Menschenwelt.
    Ich bin der Eine. Ich bin Alles. Ich bin die Inkarnation der Schlange.
    Ich spürte, wie meine Gedanken rasch in eine andere Richtung gelenkt wurden, als wäre mein Bewusstsein ein Pfeil, der von einem gespannten Bogen abgeschossen worden war, auf irgendeinen unbekannten Bestimmungsort zu.

    Das erste Gesicht, das ich in dieser neuen Welt durch meine Gedanken hindurch sah, war das einer Frau. Bei ihr handelte es sich um eine Kreatur mit einem schrecklichen Antlitz, einer Maske äußerster Verderbtheit. An ihren Schultern entlang wanden und schlängelten sich dünne Giftschlangen. Als sie nach oben griff, um die goldene Maske zu entfernen, die ihr wahres Gesicht vor mir verbarg, war ich in diesem Trancezustand verloren. Doch da packte mich Ewen und kehrte zu meiner Kehle zurück, um erneut die Haut der bereits verheilten Wunde mit den Zähnen zu durchdringen und von mir zu trinken.
    Vor meinem geistigen Auge fiel die goldene Maske herunter - und da war sie, die Mutter der Dunkelheit, die Braut der Schatten.
    Die mondlose Nacht ihres Gesichtes starrte mich an, als wäre es ihr Wunsch, mich zu vernichten.
    Unsere Liebe Frau des Scheidewegs verdunkelte meinen Geist. Nicht Medhya in ihrer Erscheinungsform als Kriegerin, sondern die Herrin der Schlangen, Datbathani Medh-Nahhashim, die dem Gift der Schlange selbst entstammte.
    Ich legte mich in jenem verschlossenen Brunnen, der zu unserem ewigen Grab bestimmt war, wieder auf den Rücken und spürte, wie das Blut aus meinen Adern zwischen Ewens Lippen in seine Kehle strömte.
    In meinem Zustand der Verzückung, die durch Ewens Blutsaugen entstanden war, hörte ich die Stimme eines Mannes, die von oben an mein Ohr drang, von der anderen Seite des Brunnendeckels herüber.
    Es war Merod Al-Kamr, der in meinem Blut sprach. Denn ich hatte Merod in mein Inneres geholt. Er lebte in meinem Fleisch, und ich verfügte über sein Wissen.
    »Artephius ist nahe«, sagte er. »Du darfst nicht lange ruhen.«

     
    Dies ist das Vermächtnis des Aleric, Sohn der als Hexe an geklagten und verurteilten Armaela Auf dem Felde; bei den Kamr, den Myrrydanai und den Nahhashim, die der Großen Medhya den Mantel aus Fleisch stahlen und ihr Blut tranken, als Maz-Sherah vorausgesagt.
    Ich, der Falkner, der Merod Al-Kamr verzehrte, welcher »Priester des Blutes« genannt wurde und König von Alkemara war; der rechtmäßige Besitzer des Stabes der Nahhashim und der Geheimnisse der seltenen Blume, die von dem Priester das »Fleisch der Medhya« genannt wurde und das Gift der Schlange enthält; ich bin der Eine und Alles, der Erwählte der Abkömmlinge des gestohlenen Blutes von Medhya, deren Blut und Atem die Seele des Vampyrvolkes darstellt, die den Toten das Leben bringt und den Lebenden den Tod.

 
     
    1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Juli 2009 bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
    Copyright © 2005 by Douglas Clegg
    Published by Arrangement with Douglas Clegg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlagfoto: © HildenDesign, München
Redaktion: Joern Rauser
HK · Herstellung: RF
    eISBN 9783641035341
     
    www.blanvalet.de
    www.randomhouse.de