Prime Time
Friedhof der Mariakirche hinab. Graue Kreuze und Steine in einer Reihe mit Bächen von Regenwasser dazwischen. In seiner Brust pochte das Selbstmitleid.
So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt.
»Die Post, bitte schön!«
Thomas zuckte zusammen, als er den fröhlichen Ruf des Hausmeisters hörte.
»Ich bin auf der Zielgeraden«, sagte der begeistert und reichte Thomas ein dünnes Bündel. »Ab Freitag Urlaub. Und Sie?«
»Ich auch«, sagte Thomas mit trockener Kehle und nahm die Briefe.
Der Hausmeister verschwand ebenso flott, wie er gekommen war, und ließ Thomas wie gelähmt mit einem Haufen brauner Umschläge zurück. Mechanisch nahm er den Brieföffner, schlitzte den ersten auf, Informationen über die Normen zur Gewährung von Sozialhilfe in der Gemeinde von Pajala, um die er gebeten hatte. Eine Hausmitteilung mit der Aufforderung, Freitag am Bouleturnier im Humlegården teilzunehmen. Der Gehaltszettel, wie jeden Monat.
Dann ein etwas dickeres glattes Kuvert, er drehte es um.
Die Gemeinde Vaxholm hatte es ihm nachgeschickt. In der rechten oberen Ecke prangte ein großes Logo, IG, dann eine Reihe asiatischer Schriftzeichen und darunter: »Institute for Global Economics«.
Er wog den Brief in der Hand, maß ab, wie dick er war, ungefähr ein Zentimeter.
Den hatte er nicht bestellt.
In einer einzigen Bewegung riss er den Umschlag mit dem Finger auf, ließ den Brieföffner unbenutzt. Ein Packen mit Informationen auf Englisch rutschte auf seinen Schreibtisch.
The International Next Generation Leaders’ Forum was established by the Institute for Global Economics and the Korea Foundation with the main purpose of providing an opportunity for international next generation leaders to meet their counterparts from all over the world to get acquainted with each other for their future cooperation …
Er ließ das Papier fallen, blätterte weiter.
Pacing New Challenges – Luncheon Address at the 4th International Next Generation Leaders’ Forum, Seoul, South Korea.
Was um Himmels willen …
Dann fand er den Brief.
Dear Mr. Samuelsson,
las er und überflog schnell den Text.
Das Institut hatte die große Ehre, ihn als schwedischen Abgesandten zum Vierten Internationalen Führungsforum für die Führungspersönlichkeiten der kommenden Generation vom 2. bis zum 12. September dieses Jahres nach Seoul in Südkorea einzuladen. Jeweils ein Teilnehmer aus sechzehn westlichen Ländern war zusammen mit sechzehn jungen Südkoreanern in leitender Position eingeladen. Das Institut und die Korea Foundation kamen für Reise, Kost und Logis auf und bezahlten auch Seminare, Studienreisen und Besuche in Musterunternehmen. Der Zeitplan war leider ziemlich eng, weshalb man die Teilnehmer bat, sich bis Dienstag, 26. Juni, verbindlich anzumelden.
Thomas ließ den Brief sinken. Sollte das ein Witz sein?
Er blätterte rasch in dem Papierstapel, und ganz unten fand er dann die handgeschriebene Erklärung.
Natürlich.
Kim Sung-Joon, der Stürmer aus seiner alten Eishockeymannschaft in Åkersberga. Sung-Joon, der Sohn des südkoreanischen Botschafters, der Eishockey spielte.
Thomas hatte als Mannschaftskapitän dafür gesorgt, dass er einen Platz im Sturm bekam.
Er starrte auf die zittrigen Buchstaben.
Ja, verdammt, Kim Sung-Joon, den hatte er ganz vergessen.
Aber der Koreaner ihn offenkundig nicht.
Thomas ließ den Brief sinken, sah auf den Friedhof und suchte in seiner Erinnerung.
Sung-Joon, ein kurz gewachsener, fröhlicher Junge mit großem Lächeln und Augen wie Schlitze, wenn er lachte. Sie hatten ungefähr ein Jahr lang ziemlich viel zusammen unternommen. Thomas hatte Sung-Joon zu seinem ersten Vollrausch verholfen. Der Botschafter war außer sich gewesen und hatte Thomas verboten, seinen Sohn weiterhin zu treffen, aber das hatte natürlich nichts genutzt.
Als die diplomatische Karriere des Vaters beendet war, kehrte die Familie Kim nach Südkorea zurück. Sung-Joon hatte einen Job in der Organisation bekommen, die 1988 die Olympischen Spiele ausgerichtet hatte. Bis vor sieben, acht Jahren hatten sie Kontakt zueinander gehalten.
Thomas nahm den Brief wieder auf und las, was dort in erstaunlich fehlerfreiem Schwedisch geschrieben stand.
Inzwischen war Sung-Joon Staatssekretär im Sportministerium in Seoul. Er hatte Thomas als schwedischen Repräsentanten für dieses Vierte Internationale Symposium für die Führungskräfte der kommenden Generation vorgeschlagen. Er selbst würde einer der sechzehn
Weitere Kostenlose Bücher